Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
 

Becker, Rainald

 
 

Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte

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  III

Wie aber ist - angesichts dieser nur schwach entwickelten Strukturen - die vergleichsweise hohe Reputation des Inselbistums in Spätmittelalter und Frühneuzeit zu erklären? - Grundsätzlich ist zu bedenken, daß sich der Stellenwert kirchlicher Institutionen nicht nur nach der Valenz ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Ausstattung bemaß. Eine entscheidende Rolle spielte auch immer der sie stützende Klerus. Dessen Rekrutierung war - im kirchlichen Bereich historisch früher als im weltlichen - besonderen Regularien unterworfen. Aus der einerseits römischrechtlich, andererseits biblisch abgeleiteten Idee des bischöflichen Amts entwickelte sich eine Berufsvorstellung, die man durchaus als einen Vorläufer moderner Professionalität bezeichnen kann. Überzeugungen, Fähigkeiten, Wissen, überregionale und internationale Kontakte, mit einem Wort: Qualifikationen waren es, die man von den Kandidaten für das Bischofsamt erwartete [10]. Damit waren ältere Formen des Ämterzugangs - zu denken ist nur an das Ausleseprinzip nach ständischer Herkunft (Adel versus Bürgertum) - grundsätzlich ausgeschaltet. Freilich darf man diese relative soziale Offenheit des geistlichen Amts nicht überschätzen. Daß für die Rekrutierung des bischöflichen Nachwuchses häufig doch die Geburt, nicht die Leistung ausschlaggebend war, ist nicht zu leugnen.

Dennoch konnte sich an manchen Stellen der Reichskirche das Kompetenzprinzip unter bestimmten Bedingungen historisch durchsetzen. Vor allem war dies in den Salzburger Mediatbistümern, insbesondere in Chiemsee der Fall. Gerade weil die Inseldiözese unter politischen und materiellen Aspekten kaum als attraktives Ziel einer kirchlichen Spitzenkarriere gelten konnte, war sie dem Machtspiel um Mitra und Hirtenstab ringender Aristokratensöhne entzogen. Hingegen bot sie sich den Klerikern, die zwar keinen Geburtsvorteil, wohl aber berufliche Lebenserfahrung und universitäre Bildung aufweisen konnten, als interessantes Arbeitsfeld dar. Bürgersöhne, Patrizier, Niederadlige - sozialgeschichtlich betrachtet also jenes Element, auf das sich die Akademisierung der alteuropäischen Gesellschaft seit dem späten Mittelalter stützte - konnten sich hier, unbeschadet der Konkurrenz durch den Hochadel, frei entfalten. Mit ihnen fand eine internationale Intellektualität, eine juristisch, humanistisch, später auch barock-tridentinisch geprägte Gelehrsamkeit Eingang in die süddeutsche Reichskirche. Sie wirkten als Vermittler einer universalen akademischen und literarischen Kultur. Wegen ihrer Herkunft aus dem kaiserlichen oder päpstlichen Diplomatenmilieu, aufgrund ihrer beruflichen Prägung durch den Verwaltungsdienst in den österreichischen und bayerischen Territorialstaaten, standen die Chiemseer Oberhirten häufig im internationalen Rampenlicht, etwa als Gesandte auf den Reichstagen, als Emissäre der Salzburger Erzbischöfe auf den großen Kirchenkonzilien und an der Kurie oder als Theologen auf den Reichsreligionsgesprächen des Konfessionellen Zeitalters. Mit gesteigerten kulturellen Aktivitäten, als Gelehrte, Literaten und Büchersammler, zogen sie eine überregionale Aufmerksamkeit auf sich. Durch besondere seelsorgliche Initiativen fanden sie eine weit über Süddeutschland hinausreichende Beachtung.

Dieser spezifische sozialgeschichtliche Charakter des Chiemseer Episkopats als intellektueller und kultureller Elite läßt sich auch ganz konkret fassen. Man kann das Sozial- und Bildungsprofil der Seebischöfe, ihren Grad an Akademisierung und Professionalisierung, ihre Vernetzung mit der internationalen höfischen Welt der Vormoderne, nicht zuletzt ihre Präsenz auf der kulturellen Ebene quantitativ und qualitativ genau beschreiben. Zum Abschluß seien einige neue Beobachtungen zu diesem bislang im Chiemseer Zusammenhang noch kaum behandelten Problem vorgestellt. Im Mittelpunkt sollen dabei die zwischen 1448 und 1648 amtierenden Bischöfe stehen. Diese zeitliche Fokussierung auf die Schwellenjahrhunderte zwischen Mittelalter und Neuzeit ist aus zwei Gründen gerechtfertigt. Zum einen ist der Forschungsstand für diese Bischofsgenerationen jüngst breit aufgearbeitet worden [11]; zum anderen war in dieser Übergangsepoche die Außenwirkung des kleinen süddeutschen Bistums am intensivsten ausgeprägt.

1.) Soziale Herkunft: Chiemsee gehörte im reichskirchlichen Kontext zu den besonders bürgerlich strukturierten Diözesen: Von den insgesamt 16 Bischöfen, die zwischen 1448 und 1648 die Chiemseer Cathedra innehatten, stammten fast zwei Drittel aus dem Bürgertum oder dem Patriziat. Zum Vergleich: Im Erzbistum Salzburg erwarben im gleichen Zeitraum nur zwei bürgerliche Kleriker die Mitra, was einem Anteil von rund einem Zehntel an der Gesamtzahl aller Erzbischöfe entsprach. Meilenweit war man in Chiemsee zudem von den Verhältnissen in der rheinischen Germania Sacra entfernt, wo - wie in Mainz, Köln oder Trier - der Adel, sogar ausschließlich der reichsunmittelbare Hochadel den Ton angab. Übertroffen wurde die betont bürgerliche Sozialstruktur des Chiemseer Episkopats nur noch von den Verhältnissen in Wien und Wiener Neustadt. Diese beiden Stadtdiözesen, die über kein Hochstift verfügten und dem (österreichischen) Landesherren unterstanden, also verfassungsrechtlich mit Chiemsee zu vergleichen sind, wiesen einen noch höheren Anteil an bürgerlichen Bischöfen auf [12].

Was freilich hat man sich unter der Kategorie des Bürgerlichen vorzustellen? - Das Feld war vielfältig, der Rahmen weitgesteckt. Gleichsam adelsnahe Qualitäten waren hier ebenso zu finden wie ausgesprochene homines novi von äußerst bescheidener Abkunft. Mit Persönlichkeiten wie dem mit den Fuggern und Welsern verwandten Augsburger Patriziersohn Ägidius Rehm oder dem aus dem Nürnberger Stadtpatriziat stammenden Christoph Mendel von Steinfels ist sicherlich das oberste Ende der Skala bezeichnet [13]. Aus unterbürgerlichen Schichten war hingegen der bereits erwähnte Piccolomini-Freund Silvester Pflieger aufgestiegen. Bei ihm kam noch erschwerend hinzu, daß er aus einer illegitimen Verbindung eines Klerikers mit einer Ledigen hervorgegangen war. Trotzdem konnte er später Bischof werden. Deutlich zeigt sich im Beispiel Pfliegers die mobilitätsfördernde, ständesprengende Wirkung klerikaler Lebensläufe [14].

Gleichwohl sei hier nicht verschwiegen, daß solche Karrieren konjunkturabhängig waren. Spätestens im 18. Jahrhundert war es mit der bürgerlichen Präsenz auch in Chiemsee vorbei, hatten hier längst die altösterreichischen Adelsfamilien wie Kuenburg, Liechtenstein, Wolkenstein, Spaur, Arco oder Breuner das Regiment übernommen. Das Phänomen der bürgerlichen Bischöfe war bildungsgeschichtlich begründet. Solange die Patriziersöhne aufgrund ihrer ausgeprägteren Studienneigung gegenüber ihren Zeitgenossen aus dem Adel einen Kompetenzvorteil behaupten konnten, solange vermochten sie sich in hohen Kirchenämtern zu halten. Im späten Ancien Régime hatten die Adligen den akademischen Vorsprung des Bürgertums aufgeholt. Das Pendel schlug wieder zugunsten des Adels aus. Es kam zu einer ‚Feudalisierung' des Chiemseer Bischofsthrons. [15]
 

Fussnote(n):
[10] Vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 56-57 und 263-268; zusammenfassend auch Borgolte, Michael, Die mittelalterliche Kirche (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 17), München 22004, S. 38 f.; überhaupt zu Professionalisierungsprozessen am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit Schwinges, Rainer C., Zur Professionalisierung gelehrter Tätigkeit im deutschen Spätmittelalter, in: Boockmann, Hartmut u.a. (Hg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Tl. 2: Bericht über die Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1996 bis 1997 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse III, 239), Göttingen 2001, S. 473-493.
[11] Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Ergebnissen meiner Dissertation (vgl. Anm. 6). Zum weiteren Umfeld der Erforschung kirchlicher Führungsschichten im Reich und in Europa: Gatz, Erwin, Zum Stand der Diözesangeschichtsschreibung im deutschsprachigen Mitteleuropa. Perspektiven und Reflexionen. Mit einer Auswahlbibliographie, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 97 (2002) S. 323-337.
[12] Vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 91 (Tabelle 2).
[13] Vgl. ebd., S. 106 f.
[14] Vgl. ebd., S. 106.
[15] Vgl. ebd., S. 109; generell zum Prozeß der ‚Rearistokratisierung' der Reichskirche Kremer, Stephan, Herkunft und Werdegang geistlicher Führungsschichten in den Reichsbistümern zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation. Fürstbischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 47), Freiburg/Brsg. u.a. 1992, S. 75-125; Hersche, Peter, Adel gegen Bürgertum? Zur Frage der Refeudalisierung der Reichskirche, in: Jürgensmeier (wie Anm. 9), Weihbischöfe, S. 195-208.

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