Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07)
 

Brendecke, Arndt

 
 

„Diese Teufel, meine Papiere ...“ Philipp II. von Spanien und das Anwachsen administrativer Schriftlichkeit [*]

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Vielheit ist ein ambivalentesPhänomen. Im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit konnte sie beispielsweisefür sprachlichen Reichtum (copia verborum)stehen, aber auch für das bedrohlich Unbewältigbare (multitudinis librorum, scriptorumabundantia). Gewandelte Lesetechniken, die größere Verfügbarkeit von Pa­pier,die Ausbreitung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der Lesefähigkeit, derBriefkultur und der pragmatischen Schriftlichkeit boten einen wichtigenHintergrund solcher Wahrnehmungen. [1] Dennoch lassen sich die Klagen über dieVielheit der Schriften, wie sie sich ab dem 15. Jahrhundert häufen, nichteinfach als zeit­ge­nöss­ische Erfahrungen der Medienrevolution des Buchdruckesinterpretieren. Sie besitzen vielmehr einen topischen Grundton, der seinePlausibilität aus einer relativ konstanten vita-brevis-ars-longa-Erfahrungspeist, denn jede Generation erfährt die Begrenztheit ihrer Lese-, Schreib- undRezeptionskapazitäten. Schonim Alten Testament (Prediger 12,12) heißt es bekanntermaßen: „des vielenBüchermachens ist kein Ende, und viel Studieren macht den Leib müde“.

Umepochensignifikante Ergebnisse zu erzielen, müssen also die jeweiligenzeitgenössischen Antworten analysiert werden. Es ist zu fragen, welche Strategiendes Umgangs mit dem Phänomen anwachsender Schriftlichkeit entwickelt wurden undmit welchen Effekten diese zum Einsatz kamen? Dies soll hier nicht am Beispielvon Gelehrten und ihrem andauernden Stöhnen über zu große Bücherbeständegeschehen[2], sondern an dem der spanischen Verwaltung des 16. Jahrhunderts.

 

 

Spanien stellt in dreierlei Hinsicht einen besonders interessanten Fall dar. Erstens wurde mit dem Archiv von Simancas 1540 in Kastilien erstmals eine Art zentrales Staatsarchiv gegründet und somit eine Programmatik der Aufbewahrung und dauerhaften Zurverfügungstellung regierungsrelevanter Schriften entwickelt und institutionell durchgesetzt. Zweitens bildete sich ein Typus von Herrschaft aus, der vergleichsweise bürokratisch und zugleich partiell zentralistisch organisiert war, insbesondere in Hinsicht auf die überseeischen Territorien. Das Funktionieren dieser Form von Kolonialherrschaft war in hohem Maße von einer organisierten Informationserhebung und Kommunikation abhängig.[3] Drittens verkörpert Philipp II. (1556–1598) den für die weitere Frühe Neuzeit prototypisch gewordenen Herrschertypus des ‚Papierkönigs’ (rey papelero), der seine Entscheidungen auf Aktenstudien gründete bzw. zu gründen versuchte.

Der italienische Gesandte Lorenzo Priuli schrieb 1576 über Philipp II., daß dieser beständig las und schrieb, auch wenn er in der Kutsche reiste. [4] Dies hatte seine Gründe. Für den März des Jahres 1571 konnte errechnet werden, daß der König persönlich mehr als 1.250 Petitionen bearbeitete, d.h. gut 40 pro Tag. Zwischen August 1583 und Dezember 1584 waren es etwa 16.000. [5] Am 30. März 1576 informierte er seinen Sekretär Mateo Vázquez, daß er ihn heute nicht zu sich rufen haben könne, da er ca. 400 Unterschriften zu tätigen hatte. [6] Ab den 1580er Jahren benützte Philipp II. schließlich einen Stempel, um Routinekorrespondenz zu zeichnen. [7] Im April 1576 schrieb Philipp verzweifelt und sicher übertreibend von 100.000 Papieren, die er vor sich habe, und davon, daß er sich noch nicht befreit habe von „diesen Teufeln, meinen Papieren“. Er habe immer noch einige heute Abend zu bearbeiten und sollte davon welche mit aufs Land nehmen, wo es nun hingehe. [8] Diese Last ging nicht spurlos an der Gesundheit des Königs vorüber. Ab den 1580er Jahren trug er eine Lesebrille, für die er sich schämte, kurz darauf hatte ihm der Arzt vom Lesen nach dem Abendessen abgeraten und Philipp zeigte sich davon überzeugt, daß er sich von den vielen Papieren einen schweren Husten eingehandelt hatte, lebte dieser doch immer wieder auf, sobald er Papiere in die Hand nahm. [9]
 

Fussnote(n):
[*] Es handelt sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Textes, der zuerst in den ‚Mitteilungen des Sonderforschungsbereiches 573’, Heft I, 2006, S. 21-30, veröffentlicht wurde.
[1] Zur Pragmatischen Schriftlichkeit Keller 1992, Holzapfel 2005.
[2] Hierzu zuletzt Blair 2003.
[3] Konetzke 1970.
[4] Zit. nach Parker 2000, 21.
[5] Parker 2000, 28.
[6] Riba García 1959, 36.
[7] Parker 2000, 28; Gómez Gómez 1993, 174.
[8] Zit. nach Parker 2000, 29.
[9] Parker 2000, 44.

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