Vielheit ist ein ambivalentesPhänomen. Im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit konnte sie beispielsweisefür sprachlichen Reichtum (copia verborum)stehen, aber auch für das bedrohlich Unbewältigbare (multitudinis librorum, scriptorumabundantia). Gewandelte Lesetechniken, die größere Verfügbarkeit von Papier,die Ausbreitung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der Lesefähigkeit, derBriefkultur und der pragmatischen Schriftlichkeit boten einen wichtigenHintergrund solcher Wahrnehmungen. [1] Dennoch lassen sich die Klagen über dieVielheit der Schriften, wie sie sich ab dem 15. Jahrhundert häufen, nichteinfach als zeitgenössische Erfahrungen der Medienrevolution des Buchdruckesinterpretieren. Sie besitzen vielmehr einen topischen Grundton, der seinePlausibilität aus einer relativ konstanten vita-brevis-ars-longa-Erfahrungspeist, denn jede Generation erfährt die Begrenztheit ihrer Lese-, Schreib- undRezeptionskapazitäten. Schonim Alten Testament (Prediger 12,12) heißt es bekanntermaßen: „des vielenBüchermachens ist kein Ende, und viel Studieren macht den Leib müde“.
Umepochensignifikante Ergebnisse zu erzielen, müssen also die jeweiligenzeitgenössischen Antworten analysiert werden. Es ist zu fragen, welche Strategiendes Umgangs mit dem Phänomen anwachsender Schriftlichkeit entwickelt wurden undmit welchen Effekten diese zum Einsatz kamen? Dies soll hier nicht am Beispielvon Gelehrten und ihrem andauernden Stöhnen über zu große Bücherbeständegeschehen[2], sondern an dem der spanischen Verwaltung des 16. Jahrhunderts.
Spanien stellt in dreierlei
Hinsicht einen besonders interessanten Fall dar. Erstens wurde mit dem Archiv
von Simancas 1540 in Kastilien erstmals eine Art zentrales Staatsarchiv gegründet
und somit eine Programmatik der Aufbewahrung und dauerhaften
Zurverfügungstellung regierungsrelevanter Schriften entwickelt und
institutionell durchgesetzt. Zweitens bildete sich ein Typus von Herrschaft
aus, der vergleichsweise bürokratisch und zugleich partiell zentralistisch
organisiert war, insbesondere in Hinsicht auf die überseeischen Territorien.
Das Funktionieren dieser Form von Kolonialherrschaft war in hohem Maße von
einer organisierten Informationserhebung und Kommunikation abhängig.[3]
Drittens verkörpert Philipp II. (1556–1598) den für die weitere Frühe Neuzeit
prototypisch gewordenen Herrschertypus des ‚Papierkönigs’ (rey papelero), der seine Entscheidungen auf Aktenstudien gründete
bzw. zu gründen versuchte.
Der
italienische Gesandte Lorenzo Priuli schrieb 1576 über Philipp II., daß dieser
beständig las und schrieb, auch wenn er in der Kutsche reiste. [4] Dies hatte
seine Gründe. Für den März des Jahres 1571 konnte errechnet werden, daß der
König persönlich mehr als 1.250 Petitionen bearbeitete, d.h. gut 40 pro Tag.
Zwischen August 1583 und Dezember 1584 waren es etwa 16.000. [5] Am 30. März
1576 informierte er seinen Sekretär Mateo Vázquez, daß er ihn heute nicht zu
sich rufen haben könne, da er ca. 400 Unterschriften zu tätigen hatte. [6] Ab
den 1580er Jahren benützte Philipp II. schließlich einen Stempel, um
Routinekorrespondenz zu zeichnen. [7] Im April 1576 schrieb Philipp verzweifelt
und sicher übertreibend von 100.000 Papieren, die er vor sich habe, und davon,
daß er sich noch nicht befreit habe von „diesen Teufeln, meinen Papieren“. Er
habe immer noch einige heute Abend zu bearbeiten und sollte davon welche mit
aufs Land nehmen, wo es nun hingehe. [8] Diese Last ging nicht spurlos an der
Gesundheit des Königs vorüber. Ab den 1580er Jahren trug er eine Lesebrille,
für die er sich schämte, kurz darauf hatte ihm der Arzt vom Lesen nach dem
Abendessen abgeraten und Philipp zeigte sich davon überzeugt, daß er sich von
den vielen Papieren einen schweren Husten eingehandelt hatte, lebte dieser doch
immer wieder auf, sobald er Papiere in die Hand nahm. [9]