Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Ginster, Regina

 
 

Das so genannte Wirtschaftswunder der 1950er - Westdeutschland springt auf den Zug der Moderne

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Was da in blitzartiger Geschwindigkeit mit den Nahrungsmitteln geschah, schien mir brutal und ungeheuerlich. Feste Nußkerne, derbe Apfelstücke, harte Zitronenschalen wurden im Bruchteil einer Minute zu einer unkenntlichen Masse zermalmt. Kraut und Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln, Speck und Fisch waren nach ein paar Atemzügen nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Es lehnte sich irgendetwas auf in mir gegen diese Gleichschaltung der Lebensmittel. (...) Ich enttäuschte meinen Mann mit meiner zurückhaltenden Einstellung zu seinem Geschenk; der hatte von mir, die ich alle zeit- und kraftsparenden Neuerungen auf dem Gebiet des Haushaltes freudig begrüße, sofortige Zustimmung erwartet. Nun, er brauchte nicht lange darauf zu warten: nach den ersten Kostproben verwandelte sich die anfängliche feindselige Haltung in ehrliche Bewunderung.
 
    Jakob Tanner, Grassroots-History und Fast Food, in: Geschichtswerkstatt, Heft 12, 1987, S. 49-54, hier S. 52.  

  Wundersames geschah dank der neuen elektrischen Mixgeräte in westdeutschen Küchen und Wundersamen sah man sich ausgesetzt: Küchengeräte und Staubsauger, Südfrüchte und andere importierte Nahrungsmittel, Fernsehen und Radio, Waschmaschinen und Kühlschränke, chemische Waschmittel, Selbstbedienungsläden, Tiefkühlkost, Bohnenkaffee, Motorroller und PKW, modische Kleidung und Werbung, Urlaub, Freizeitleben, Kino, Wohnungsausstattung (Nierentisch und Co),... Die Liste der Neuerungen, die seit 1950 in den Konsumgütermarkt eingeführt wurden, lässt sich beliebig fortsetzen (und ist wohl gleichzeitig eine Blaupause für alles, was heute wie selbstverständlich in jeden Haushalt integriert sein muss). Aber von Selbstverständlichkeit wagte fünf Jahre nach Kriegsende noch niemand zu sprechen, genauso wenig hatte man überhaupt Worte für diese Erlebnisse. Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass der schön-deutsche Begriff "Wirtschaftswunder" nicht aus Deutschland stammt! Wir verdanken ihn einem Redakteur der "Times" in London, der ihn 1950 als Reaktion auf die beginnende und erhoffte finanzpolitische Stabilisierung Westdeutschlands prägte. Das "Wirtschaftswunder" ist also gewissermaßen importiert...  

  Was in der Bundesrepublik im Laufe der 50er und 60er vor sich ging, war noch wenige Jahre zuvor unvorhersehbar und noch weniger erwartet. Denn der Alltag der Menschen war seit Beginn des Krieges vollständig eingeschränkt und kontrolliert, daran änderten auch die Besatzungsmächte vorerst nichts. Lebensmittel oder Kleidung gab es weiterhin nur durch das Einlösen von Marken. Die Schaufenster in den Strassen blieben weitgehend leer und dennoch ausgestellte Waren blieben wegen der andauernden Inflation unerschwinglich, dabei gab es weder überladene Wursttheken, noch mehrere hundert Sorten Brot wie das heute der Fall ist. Die Zuteilung von minimalen Rationen sorgte dafür, dass alle das gleiche Nichts besaßen. Mit dem Wirtschaftswunder wurde in der Bevölkerung ein Traum generiert, der nicht zunächst von Masse und Überfluss handelte, sondern von der Befriedigung existentieller Bedürfnisse: Die Hoffnung, sein Leben wieder selbst gestalten zu können war kühn, denn persönliche Freiheit und Unabhängigkeit waren auch in der Nachkriegszeit vielen fremd.
Was das öffentliche Leben betraf sah es nicht anders aus: Noch Ende der 40er waren die Rohstoffe zu knapp, die Produktionskapazitäten zu gering und die Einsatzmöglichkeiten von Arbeitskräften zu unausgewogen. Während die Landwirtschaft durch den stetigen Flüchtlingsstrom einen Überschuss an Arbeitern meldete, suchte man in den Städten händeringend qualifizierte Mitarbeiter für Behörden und Industrie. Zusätzlich erstickte die Inflation, die auf Grund der Zwangswirtschaft und des Schwarzmarktes nicht zu bewältigen war, auch den letzten Wachstumskeim.
 

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