Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
 

Dregger, Sebastian

 
 

Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz – und das Beispiel Otto Küsels.

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  Ähnlich zweischneidig gestaltete sich das Verhältnis der Funktionshäftlinge zu den übrigen Häftlingen im Lager. Einerseits waren sie die unumstrittenen, privilegierten Chefs unter den Häftlingen. Als solche war es ihnen möglich, nahezu alles mit ihren unterstellten Häftlingen anzustellen. So konnte sogar ein Kapo einen Mithäftling ohne Weiteres ermorden, ohne dass er dafür im Regelfalle belangt wurde. Besonders die Funktionshäftlinge mit den grünen Abzeichen, die Berufskriminellen, verhielten sich gegenüber ihren Mithäftlingen in der Regel skandalös, die sie schlugen, bestahlen und sogar sexuell missbrauchten. Benedikt Kautzky, ein Auschwitz-Überlebender, beschreibt seine Erfahrung bezogen auf die Berufskriminellen wie folgt: 'Der Gewalttäter konnte nach Herzenslust prügeln, der Dieb und Betrüger konnte seine Kameraden bestehlen und um das ihnen zustehende Essen bringen und auch der Sittlichkeitsverbrecher kam auf seine Rechnung.'[9] Dies geschah unter Rückendeckung der SS- Lagerleitung, der es als die Krönung ihres Systems erschien, wenn die Häftlinge untereinander sich das Leben noch mehr zur Hölle machten. So setzte Auschwitz-Kommandat Höß gerade auf diese für jeden Häftling traumatische und psychisch vernichtende Erfahrung, nicht nur der SS ausgeliefert zu sein, sondern auch das Opfer der eigenen Mitgefangenen zu werden, wenn er sagt: 'Keine noch so gemeine Willkür, noch so schlechte Behandlung von Seiten der Bewacher trifft sie (gemeint: die Gefangenen A.d.V.) so hart, wirkt psychisch so schwer auf sie ein wie das Verhalten der Mitgefangenen. Gerade das wehrlose, dagegen machtlose  Zusehensmüssen, wie solche Häftlingsvorgesetzte ihre Mithäftlinge quälen, wirkt so niederschmetternd auf die ganze Psyche der Häftlinge.'[10]
Auf der anderen Seite standen die Funktionshäftlinge unter enormen Druck. Denn um ihre privilegierten Posten herrschte ein großer Konkurrenzkampf, vor allem zwischen den Lagern der politischen und kriminellen überwiegend reichsdeutschen Häftlinge, die beide Führungspositionen unter den Häftlingen begehrten. So versuchte jeder der beiden Gruppen, möglichst Leute aus ihren Reihen in die Funktion eines Kapos zu bringen.[11] Um aber eine neue Person in eine solche Position zu versetzen, musste vorher ein anderer Kapo aus einer solchen verdrängt werden, was für jeden Kapo bedeutete, dass ein falscher Schritt, ein Fehler schon genügte, um von anderen Häftlingen bei der SS angeschwärzt zu werden. Verlor ein Funktionshäftling seinen Posten, dann erwartete ihn ein schlimmes Schicksal: er wurde in der Regel dann von den übrigen Mithäftlingen gelyncht.[12]

B. Das Beispiel des Funktionshäftlings Otto Küsel [13]

Otto Küsel, Häftlingsnummer 2, gehörte zu den ersten 30 Häftlingen, die am 20.Mai 1940 aus dem KZ Sachsenhausen nach Auschwitz verlegt und dort von Lagerkommandant Rudolf Höß zu Funktionshäftlingen ernannt werden.[14] Der Berliner Otto Küsel war, wie die übrigen verlegten Häftlinge, ein Krimineller, der im KZ seine Strafe wegen mehrerer Vermögensdelikte verbüßte. Er erhielt nun in Auschwitz die Funktion, die Arbeitskommandos zu koordinieren. Damit scheint nach der erfolgten Schilderung seine Laufbahn als Funktionshäftling in Auschwitz vorgezeichnet gewesen zu sein: als skrupelloses Werkzeug der SS; der, um der Wahrung der eigenen Privilegien willen, keine Skrupel gegenüber den Häftlingen kennt, die ihm unterstellt sind, und der dementsprechend verhasst bei ihnen ist. Aber nichts davon trifft auf Otto Küsel zu: Viele Auschwitz-Überlebende, die in seinem Arbeitskommando ihren Dienst taten, berichten noch viele Jahre später mit Hochachtung von ihm, wie etwa der polnische Häftling Ryszard Dacko: 'I can only speak of him using superlatives. He was very obliging and helped other prisoners whenever he could. Prisoners of various nationalities would come to him, including those who were extremely emaciated (…).'[15] Auch verstand sich Küsel nicht als williges Werkzeug der SS; vielmehr nutzte er, soweit dies möglich war, seine Möglichkeiten als Funktionshäftling, um anderen, ihm unterstellten Mithäftlingen zu helfen. Um dies tun zu können, musste er einen bemerkenswerten Drahtseilakt vollführen: Einerseits erfüllte er die Anforderungen, die die SS an ihn beim Organisieren der Arbeitseinsätze stellte; er durfte sich auf keinen Fall bei der SS verdächtig machen. Denn nur so konnte er andererseits sicher sein, von der SS seines Amtes nicht enthoben zu werden, welches erst die Grundlage für seine Möglichkeit war, den ihm unterstellten Häftlingen helfen zu können. Auch durfte sich Küsel bei den übrigen Kapos keine Feinde machen. So achtete zwar Küsel darauf, dass die Arbeitsaufträge von den Häftlingen angemessen erledigt wurden. Allerdings organisierte er mit Bedacht die Zusammensetzung der einzelnen Arbeitskommandos so, dass erschöpfte, ausgemergelte und kranke Häftlinge möglichst leichte Arbeiten zugewiesen bekamen. Darüber hinaus unterließ er es, solche Häftlinge zusätzlich zu maßregeln, wenn sie aufgrund ihres persönlichen Zustandes nicht mehr in der Lage waren, adäquat zu arbeiten - ganz davon zu schweigen, dass Küsel seine ihm unterstellten Häftlinge nicht schlug, bestahl oder in sonstiger Weise quälte. In einem Gespräch im Jahre 1969 mit dem Auschwitz-Überlebenden Hermann Langbein beschrieb Küsel seinen Drahtseilakt wie folgt: 'Natürlich konnte ich nicht jedem zu einem guten Kommando verhelfen, der mich darum gebeten hat. Wenn ich einen abweisen musste, dann sagte ich ihm: ‚Komm nur immer wieder!' Einmal ist es dann doch gelungen. Ich habe Neuzugänge in die schlechten Kommandos eingeteilt und diejenigen, die schon eine Zeit lang dort arbeiten mussten, in bessere versetzt.'[16] Dass Küsel im Zweifelsfalle sogar bereit war, seine privilegierte Stellung als Funktionshäftling zu opfern, um seinen Mithäftlingen zu helfen, beweisen die Vorgänge, die zu seiner Flucht aus Auschwitz am 29.12.1942 geführt haben.[17] Nachdem die politische Abteilung der SS gezielt Jagd auf vermutete Mitglieder der polnischen Intelligenz unter den Häftlingen machte, entschlossen sich die Häftlinge Jan Barás, Mieczyslaw Januszewski und Boleslaw Kuczbara, ehemalige Offiziere der polnischen Armee, zur Flucht aus dem Lager. Küsel, dem diese Männer in seinem Arbeitskommando unterstellt sind, erfährt von diesen Absichten - und hat nur eine Wahl: entweder er meldet der SS die Fluchtpläne der Männer - und schickt sie damit in den sicheren Tod - oder er flieht mit ihnen, um nicht nach einer alleinigen Flucht der drei Männer aus seinem Kommando von der SS zur Verantwortung gezogen zu werden. Weil er aber seine Männer nicht verraten will, entschließt sich Küsel mit ihnen zu fliehen, auch wenn er als privilegierter Häftling daran eigentlich kein Interesse hat. Unter abenteuerlichen Umständen gelingt den vier Männern tatsächlich die Flucht, wenngleich Küsel im September 1943 in Warschau erneut von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz gebracht werden sollte. [18] Nur der Kommandantenwechsel in Auschwitz verhindert, dass Küsel nicht ermordet wird. Seine Hilfe als Kapo für die Mithäftlinge, die diese nicht zu vergessen haben scheinen, verhindert, dass Küsel gelyncht wird und legt dafür die Grundlage, dass Küsel das Lager tatsächlich überleben kann.

III. Fazit

Die Funktionshäftlinge waren ein zentrales Strukturelement in der Vernichtungsmaschinerie des Lagers Auschwitz. Durch Privilegien von den übrigen Häftlingen unterschieden und mit besonderen Aufgaben von der SS betraut, trugen sie dazu bei, den Terror bis in den letzten Winkel des Lagers zu tragen und mögliche Solidarität unter den Häftlingen gegen die SS zu schwächen. Unter ihrer Zuhilfenahme gelang es der SS, auch mit relativ wenig Personal im Vergleich zur Zahl der Häftlinge, eine ungeheure Vielzahl von Menschen zu ermorden. Doch das Beispiel Otto Küsels zeigt, dass die zusätzlichen Möglichkeiten, über die die Funktionshäftlinge verfügten, auch genutzt werden konnten, um das Los der Häftlinge zu verbessern. Es zeigt auch, dass es Menschen gab, die sich zwar, wie alle Häftlinge, wenn sie nur die kleinste Chance zum Überleben haben wollten, den dortigen Strukturen im Vernichtungslager anpaßten - aber nicht um sich ihnen zu unterwerfen und sich von ihnen korrumpieren zu lassen, sondern um stärker zu sein als jene perfiden und menschenverachtenden Strukturen desjenigen Vernichtungslagers, in dem unzählige Menschen ihr Leben lassen mussten.
 

Fussnote(n):
[9] Zitiert nach: Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, S.171.
[10] ebd. S. 173.
[11] Hermann Langbein, ...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank - Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, S.44-56.
[12] ebd., S.32.
[13] Meinen persönlichen Dank gilt dem Besucherbegleiter der Gedenkstädte und des Museums Auschwitz- Birkenau, Herrn Jerzy Debski, der in seiner Führung unserer studentischen Exkursionsgruppe das besondere Beispiel Otto Küsels erläuterte und mich somit erst auf das Thema dieses Aufsatzes brachte.
[14] Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, 1.Aufl.1989, S.32.
[15] Zitiert nach: Henryk Swiebocki, Prisoner Self-Help, in: Piper/ Swiebocka, aaO, S.209. Auf weitere ähnliche Aussagen über Otto Küsel wird in Fußnote 6 auf der gleichen Seite verwiesen.
[16] Zitiert nach: Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, S.181.
[17] Danuta Czech, aaO, S.367-368.
[18] ebd., S.613.

 
Literatur
  • Brzezicki, Eugeniusz,  Die Funktionshäftlinge in den Nazi-Konzentrationslagern. Eine Diskussion, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Die Auschwitz-Hefte, Bd.1, 2.Aufl., 1995, S.231-235.
  • Czech, Danuta, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, 1.Aufl., 1989.
  • Iwaszko, Tadeusz, Deportation to the camp and registration of prisoners, in: Piper/ Swiebocka (Hrsg.), Auschwitz - Nazi Death Camp, 3.Auflage, Auschwitz, 2005, S.54-69.
  • Langbein, Hermann, Menschen in Auschwitz, 1. Auflage, Wien, 1972.
  • Langbein, Hermann, ...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank  - Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, 1.Aufl., 1980.
  • Orth, Karin, Gab es eine Lagergesellschaft? - "Kriminelle" und politische Häftlinge im Konzentrationslager, in: Frei/Steinbücher/Wagner (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit - Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, Bd.4, 1. Aufl., 2000, S. 109-132.
  • Piper, Francizek, The number of victims at KL Auschwitz, in: Piper/ Swiebocka (Hrsg.), Auschwitz - Nazi Death Camp, 3.Auflage, Auschwitz, 2005, S.182-199.
  • Swiebocki, Henryk, Prisoner Self-Help, in: Piper/ Swiebocka (Hrsg.), Auschwitz - Nazi Death Camp, 3.Auflage, Auschwitz, 2005, S 207-214.
 

 
Empfohlene Zitierweise:

Dregger, Sebastian: Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz – und das Beispiel Otto Küsels., in: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten [Ausgabe 04 - Wintersemester 07/08],
www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de/index.php?ausg=4&id=77&subid=70
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