Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07)
 

Baumeister, Martin

 
 

Vor der movida: Madrid und die widersprüchliche Modernisierung Franco-Spaniens[*]

Artikel empfehlen  

  (Seite 1 von 5) nächste Seite

  Madrid gehört zu den jungen, „coolen“ Großstädten Europas. Die Dreimillionenstadt hat ihre Image-Defizite als parasitäres, graues Zentrum der Macht gegenüber der alten Konkurrentin Barcelona weitgehend ausgleichen können. Sie gilt als vibrierende Wirtschafts- und Kulturmetropole, sie ist Sitz zahlreicher internationaler Unternehmen und zieht zahllose Touristen mit einer lebendigen kulturellen Szene, einer spektakulären Museumslandschaft und einem sprichwörtlichen Nachtleben an. Selbst das blutige Attentat vom 11. März 2004 konnte die Faszination nicht brechen, die Madrid als Verkörperung eines dynamischen, vitalen Landes ausstrahlt. Die Hauptstadt ist Schaufenster des Erfolgsmodells Spanien, dessen Bürger den friedlichen Übergang von einer Diktatur zur Demokratie bewerkstelligt und sich in zwei Jahrzehnten eine unumstrittene Position im Herzen der europäischen Staatengemeinschaft erobert haben. Seit dem Tod des Caudillo sind drei Jahrzehnte vergangen, die Diktatur scheint ferner denn je, auch wenn die Beseitigung des letzten öffentlichen Franco-Denkmals in der Hauptstadt im März 2005 für großes Aufsehen gesorgt hat. Nur wenigen Madridbesuchern ist allerdings bewusst, dass sich die heutige Gestalt der Stadt zu wesentlichen Teilen in der Franco-Zeit herausgebildet hat und ihr Aufstieg vom Regierungs- und Verwaltungs- zum Wirtschaftszentrum damals begonnen und vorangetrieben wurde – trotz der Großstadtfeindschaft und heftiger antimoderner Ressentiments der herrschenden Eliten. Dieser Wandel soll im Folgenden am Phänomen des explosionsartigen Bevölkerungswachstums und des politischen Umgangs damit umrissen werden. In den Veränderungen der Hauptstadt werden die tief greifenden Umwälzungen Spaniens unter einem Regime sichtbar, das nicht nur gegen die Drohung einer sozialen Revolution, sondern zunächst auch gegen eine Öffnung und Modernisierung des Landes nach westeuropäischem Vorbild angetreten war.  

  Der Bürgerkrieg, der 1939 den Sieg der aufständischen Militärs gegen die erste spanische Demokratie gebracht hatte, muss als scharfe Zäsur in der politischen und soziokulturellen Entwicklung der spanischen Hauptstadt gewertet werden. Das „rote“ Madrid hatte den Aufständischen bis in die allerletzte Kriegsphase hinein erbitterten Widerstand geleistet. Im polarisierten Denken der antirepublikanischen Koalition repräsentierte die Metropole den Feind, das Böse schlechthin. Nach ihrem Fall wurde die Stadt einem harten Besatzungs- und Repressionsregime unterworfen. Trotz der schweren kriegsbedingten Schäden, trotz Hunger, überfüllten Gefängnissen und einer völlig daniederliegenden Wirtschaft war die Anziehungskraft Madrids, das bereits seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine ständig wachsende Zahl von Zuwanderern aus ländlichen Regionen angezogen hatte, jedoch ungebrochen. Zwischen 1930 und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts stieg die Bevölkerung Madrids dank des Einwandererstroms um mehr als Dreifache von 953.000 auf 3,15 Millionen Personen an. Zwischen 1900 und 1940 hatte die Hauptstadt ihre Einwohnerzahl bereits verdoppelt. Den größten Zuwachs verzeichnete die Stadt allerdings in der Nachkriegszeit. Bereits unmittelbar nach Kriegsende strömten Zehntausende von Zuwanderern nach Madrid. Zwischen 1948 und 1954 verstärkte sich die demographische Dynamik der Hauptstadt weiter durch die Eingemeindung von 13 Umlandkommunen, die sich über Nacht von kleinen Landgemeinden in gewaltige Industriequartiere und Auffangbecken für die Massen der Zuwanderer verwandelten und Wachstumsraten weit über denjenigen der Stadt in ihren überkommenen Grenzen aufwiesen. In den letzten 15 Jahren der Franco-Diktatur wuchs die Madrider Bevölkerung wiederum dank der Immigration um mehr als eine Million Einwohner, d.h. um 50%, ein Anstieg, der sich wie in den Jahren zuvor im überproportionalen Anschwellen der Peripherie bemerkbar machte. Nach Rekordwerten gegen Mitte der 60er Jahre, als die Zuwanderung die Grenze von 40.000 Personen pro Jahr deutlich überstieg, nahmen die Immigrantenströme in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ab, die Hauptstadt verlor nun Bevölkerungsanteile an Satellitenstädte im Großraum der Metropole. Das Wachstum des Madrider Ballungsraums hielt jedoch bis in die letzten Jahre der Diktatur an.  

Fussnote(n):
[*] Modifizierte Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem 8. Internationalen Kongress der European Association for Urban History in Stockholm am 1.9.2006.

    nächste Seite


[1]  [2]  [3]  [4]  [5]