Madrid
gehört zu den jungen, „coolen“ Großstädten Europas. Die Dreimillionenstadt hat
ihre Image-Defizite als parasitäres, graues Zentrum der Macht gegenüber der
alten Konkurrentin Barcelona weitgehend ausgleichen können. Sie gilt als
vibrierende Wirtschafts- und Kulturmetropole, sie ist Sitz zahlreicher
internationaler Unternehmen und zieht zahllose Touristen mit einer lebendigen
kulturellen Szene, einer spektakulären Museumslandschaft und einem
sprichwörtlichen Nachtleben an. Selbst das blutige Attentat vom 11. März 2004
konnte die Faszination nicht brechen, die Madrid als Verkörperung eines
dynamischen, vitalen Landes ausstrahlt. Die Hauptstadt ist Schaufenster des
Erfolgsmodells Spanien, dessen Bürger den friedlichen Übergang von einer
Diktatur zur Demokratie bewerkstelligt und sich in zwei Jahrzehnten eine
unumstrittene Position im Herzen der europäischen Staatengemeinschaft erobert
haben. Seit dem Tod des Caudillo sind
drei Jahrzehnte vergangen, die Diktatur scheint ferner denn je, auch wenn die
Beseitigung des letzten öffentlichen Franco-Denkmals in der Hauptstadt im März
2005 für großes Aufsehen gesorgt hat. Nur wenigen Madridbesuchern ist
allerdings bewusst, dass sich die heutige Gestalt der Stadt zu wesentlichen
Teilen in der Franco-Zeit herausgebildet hat und ihr Aufstieg vom Regierungs-
und Verwaltungs- zum Wirtschaftszentrum damals begonnen und vorangetrieben
wurde – trotz der Großstadtfeindschaft und heftiger antimoderner Ressentiments
der herrschenden Eliten. Dieser Wandel soll im Folgenden am Phänomen des
explosionsartigen Bevölkerungswachstums und des politischen Umgangs damit
umrissen werden. In den Veränderungen der Hauptstadt werden die tief greifenden
Umwälzungen Spaniens unter einem Regime sichtbar, das nicht nur gegen die
Drohung einer sozialen Revolution, sondern zunächst auch gegen eine Öffnung und
Modernisierung des Landes nach westeuropäischem Vorbild angetreten war.
Der
Bürgerkrieg, der 1939 den Sieg der aufständischen Militärs gegen die erste
spanische Demokratie gebracht hatte, muss als scharfe Zäsur in der politischen
und soziokulturellen Entwicklung der spanischen Hauptstadt gewertet werden. Das
„rote“ Madrid hatte den Aufständischen bis in die allerletzte Kriegsphase
hinein erbitterten Widerstand geleistet. Im polarisierten Denken der
antirepublikanischen Koalition repräsentierte die Metropole den Feind, das Böse
schlechthin. Nach ihrem Fall wurde die Stadt einem harten Besatzungs- und
Repressionsregime unterworfen. Trotz der schweren kriegsbedingten Schäden,
trotz Hunger, überfüllten Gefängnissen und einer völlig daniederliegenden
Wirtschaft war die Anziehungskraft Madrids, das bereits seit der Wende vom 19.
zum 20. Jahrhundert eine ständig wachsende Zahl von Zuwanderern aus ländlichen
Regionen angezogen hatte, jedoch ungebrochen. Zwischen 1930 und Anfang der 70er
Jahre des 20. Jahrhunderts stieg die Bevölkerung Madrids dank des
Einwandererstroms um mehr als Dreifache von 953.000 auf 3,15 Millionen Personen
an. Zwischen 1900 und 1940 hatte die Hauptstadt ihre Einwohnerzahl bereits
verdoppelt. Den größten Zuwachs verzeichnete die Stadt allerdings in der
Nachkriegszeit. Bereits unmittelbar nach Kriegsende strömten Zehntausende von
Zuwanderern nach Madrid. Zwischen 1948 und 1954 verstärkte sich die
demographische Dynamik der Hauptstadt weiter durch die Eingemeindung von 13
Umlandkommunen, die sich über Nacht von kleinen Landgemeinden in gewaltige
Industriequartiere und Auffangbecken für die Massen der Zuwanderer verwandelten
und Wachstumsraten weit über denjenigen der Stadt in ihren überkommenen Grenzen
aufwiesen. In den
letzten 15 Jahren der Franco-Diktatur wuchs die Madrider Bevölkerung wiederum
dank der Immigration um mehr als eine Million Einwohner, d.h. um 50%, ein
Anstieg, der sich wie in den Jahren zuvor im überproportionalen Anschwellen der
Peripherie bemerkbar machte. Nach Rekordwerten gegen Mitte der 60er Jahre, als
die Zuwanderung die Grenze von 40.000 Personen pro Jahr deutlich überstieg,
nahmen die Immigrantenströme in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ab, die
Hauptstadt verlor nun Bevölkerungsanteile an Satellitenstädte im Großraum der
Metropole. Das Wachstum des Madrider Ballungsraums hielt jedoch bis in die
letzten Jahre der Diktatur an.