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Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
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Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07) |
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Baumeister, Martin
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Vor der movida: Madrid und die widersprüchliche Modernisierung Franco-Spaniens[*]
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Im
Anschwellen der Bevölkerungszahlen des Großraums Madrid manifestierte sich ein
grundlegender Strukturwandel der spanischen Gesellschaft, der zögerlich und
punktuell bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte,
allerdings erst nach der Überwindung der Nachkriegsdepression in den 50er und
v.a. 60er Jahren voll zum Tragen kam. Spanien war in dieser Zeit noch mitten im
Prozess der demographischen Transition begriffen. Der ansteigende
Bevölkerungsdruck wurde vom Land an die Stadt weiter gegeben, Spanien
verwandelte sich vom Agrar- zum Industrieland, das demographische Gewicht
verschob sich in den urbanen Raum, die Relation zwischen den Erwerbstätigen in
der Landwirtschaft auf der einen, im Industrie und Dienstleistungssektor auf
der anderen Seite veränderte sich, auch befördert durch eine tiefgreifende
Agrarkrise, definitiv zu Ungunsten des Primärsektors. Nirgends sonst wurde die
Ausmaße dieser Entwicklung deutlicher als in der Großstadt. Mit ihrem Umzug in
die Metropole wurden Millionen von Spanierinnen und Spaniern mit einem Schlag
aus den oftmals archaisch anmutenden ländlichen Gebieten in die industrielle
Arbeits- und urbane Lebenswelt versetzt. Die überwältigende Mehrheit der
Zuwanderer waren Landarbeiter insbesondere aus den Latifundienregionen des
Südens und Südwestens bzw. kamen aus kastilischen Kleinbauernfamilien an der
Grenze zur Proletarisierung. Es handelte sich in erster Linie um junge,
unverheiratete Männer und Frauen ohne berufliche Qualifikation, die in der Stadt
einen Ausweg aus den durch die Agrarkrise drastisch verschlechterten prekären
Arbeits- und Lebensbedingungen und den unter der Diktatur weiter verschärften
Abhängigkeitsverhältnissen suchten und ihn in Form einer Beschäftigung im
Dienstleistungsbereich, so die Frauen als Putzkraft oder Haushaltshilfe, auf
dem Bau und zunehmend auch in der Fabrik fanden. |
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Die
Physiognomie Madrids, das sich, in einem Bild der zeitgenössischen
Stadtplanungsliteratur, wie ein Ölfleck ausbreitete, wurde durch die
Massenzuwanderung grundlegend verändert. Zum auffälligsten Merkmal der rapiden
Bevölkerungszunahme wurden breite Zonen einer “informellen Stadt”, die sich an
die historische Stadt und die Unterschichtenquartiere des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts anschloss bzw. jenseits der Stadtgrenzen, oft an große
Verkehrsadern, Ausfallstraßen und Bahnlinien, anlagerte. Der “menschliche
Gürtel” umwucherte Madrid, dessen Lage auf der kastilischen Hochebene dem
Wachstum weiten Raum ließ, scheinbar halt- und planlos, und verbreitete sich,
so ein beliebtes Bild der Zeit, “wie ein Krebsgeschwür”. Entscheidende Weichen
für die Entwicklung des großstädtischen Ballungsraums von Madrid, die
Stadtkritiker nach dem Ende der Diktatur als Weg zu “Antistadt” denunzierten
und mit einem “Drittewelt-Modell” verglichen, wurden in der unmittelbaren
Nachkriegszeit gestellt. Das sprunghafte Ansteigen der Zuwanderungszahlen in
den 40er Jahren entfaltete sich zunächst unter materiellen Voraussetzungen, die
bestimmt waren durch die Kriegszerstörungen, die verheerenden Folgen der
Autarkiepolitik und die unerbittliche Repression gegen die Verlierer des
Kriegs. Bereits in der Vorkriegszeit bestehende gravierende urbanistische
Probleme hatten sich nach 1936/39 extrem zugespitzt. Nach offiziellen Angaben
vom Ende des Jahres 1942 befanden sich mehr als zwei Drittel der Wohnsubstanz
der Hauptstadt in einem schadhaften oder gesundheitsschädlichen Zustand. Die
dramatische Wohnsituation betraf somit keineswegs nur Arbeiter und Mittellose,
sondern große Teile der Bevölkerung bis hin zu den gehobenen Mittelschichten. |
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