Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Spree, Reinhard

 
 

Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik. Der Krankenhauspatient in Vergangenheit und Gegenwart [*]

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  Interessant erscheint, daß sich viele dieser Beschwerden auch heute noch bei Patientenbefragungen finden. Zwar sind die trunksüchtigen und bestechlichen Wärter ebenso verschwunden wie das unausgebildete Pflegepersonal überhaupt. Aber lieblose Behandlung, nicht zuletzt wegen permanenter Überlastung des Pflegepersonals, autoritäres Gehabe der Ärzte und mangelnde Information, allzu schematische und strikte Organisation sowie Isolierung und Einsamkeitsgefühle sind häufige Erfahrungen von Patienten im Gegenwartskrankenhaus und Gegenstand immer wiederholter Klagen. Der Medizinsoziologe Siegrist ist in einer Patientenuntersuchung zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Klinik offenbar nicht umhin kommt, "ihre Patienten bis zu einem gewissen Grad zu 'vereinnahmen', sie bestimmten Ordnungen zu unterwerfen und damit den häuslich-individuellen Bewegungsspielraum durch systematische Veranstaltungen einzuengen." (Siegrist, Doppelaspekt d. Patientenrolle, 1976, S. 26 f.) Auf Seiten der Patienten seien dementsprechend typische Erfahrungen  

 
  • der abrupte Rollenwechsel, der den kranken, aber autonomen Menschen mit der Aufnahme zum abhängigen Anstaltsinsassen macht
  • der kollektive Tageslauf mit seinen Zwängen, angefangen beim Wecken zwischen 4 und 6 Uhr morgens und der Verabreichung des Abendessens zwischen 17 und 18 Uhr
  • die geforderte ständige Verfügbarkeit für Untersuchungen aller Art
  • die Kontaktbegrenzung wegen zu beengter Räumlichkeiten oder strikter Besuchszeiten
  • die Informationsbegrenzung hinsichtlich Diagnose, Therapie und Prognose
  • die Unpersönlichkeit der Beziehungsformen und die mangelnde individuelle Zuwendung seitens des Personals - vor allem wegen permanenter Überlastung
  • die fehlenden Sanktionsmöglichkeiten des Patienten, also sein Ausgeliefertsein an die Gunst oder auch Launen der Ärzte und des Pflegepersonals. (Siegrist, 1976, S. 29-33)
 

  Da sich diese Aspekte auch in anderen Patientenstudien zeigen und demnach den Fortschritt gegenüber dem 19. Jahrhundert erheblich in Frage stellen, kann gefolgert werden, daß es nicht zuletzt der Anstaltscharakter des Krankenhauses und die finanziellen Restriktionen seines Betriebs sind, die eine bestimmte Alltagsorganisation und ein bestimmtes Verhalten des Personals schon seit den Anfängen des modernen Krankenhauswesens erzeugen, zumindest nahelegen. Trotz aller aufgezeigten Veränderungen, besonders bei der sozialen Zusammensetzung der Patientenpopulation und beim Krankheitsspektrum, trotz aller diagnostischen und therapeutischen Fortschritte erzeugt deshalb das Gegenwartskrankenhaus, die Gesundheitsfabrik, tendenziell immer noch sehr ähnliche Erfahrungen wie das zu Unrecht als Armenhaus diffamierte Krankenhaus des frühen 19. Jahrhunderts - vor allem Unbehagen, Ängste und Streß.  

 
Empfohlene Zitierweise:

Spree, Reinhard: Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik. Der Krankenhauspatient in Vergangenheit und Gegenwart , in: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten [Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06],
www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de/index.php?ausg=1&id=18&subid=2
[Letzter Aufruf am xx.xx.xxxx]

 

Spree, Reinhard

Nähere Informationen zur Person findet man auf der Homepage vom Seminar für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der LMU München: www.vwl.uni-muenchen.de/ls_spree

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