Der
Streifzug durch die Praktiken des Schriftgebrauchs hat gezeigt, daß es neben
Strategien der reduktiven Weiterverarbeitungen in Kurzzusammenfassungen und der
Markierung des Wichtigen (Eile!), neben Vernichtung und archivarischer
Verwahrung, vor allem auch zur Etablierung dialogischer Schriftlichkeitsformate
kam, wie sie hier an den mit einem breiten freien Rand versehenen consultas vorgestellt wurden und sich im
Verwaltungsgebrauch z.B. als ‚halbbrüchiges Schreiben’ durchsetzten. [44] Besonders
deutlich treten solche Funktionen bei Fragebögen, Listen und Tabellen hervor, nicht
zuletzt natürlich auch bei tatsächlichen slot-and-filler-Formularen,
also Lückentextformularen, wie sie in der Frühen Neuzeit geläufig wurden. [45] Diese
Schreibformate etablierten sowohl administrative wie auch letztlich
wissenschaftliche Verzeichnungsstandards, durch die nicht nur der Input von
Empirie begrenzt wurde, indem sie die abzufragenden Parameter vorgaben. Solche
‚Formulare’ ermöglichen es daneben auch, standardisierte ‚Datensätze’ zu
produzieren, die dann in internen Routinen sowohl der Bürokratie wie auch der
Wissenschaft weiterverarbeitet, verglichen, und ‚verlustfrei’ in andere Formate
übertragen werden können. Mehr oder weniger explizit bestimmen so Schreibregeln
die Form und den Inhalt des Geschriebenen, die nicht alleine etwa Kriterien des
Stils, der Ästhetik oder des Herkommens genügen, sondern den Gesetzen einer
massenhaften oder zumindest seriellen Bearbeitung. Solche Schriften sind es,
die sich in der Festung von Simancas ansammelten, aber eben auch in der Welt
der Gelehrsamkeit. Papierene Schriftlichkeit wächst bis heute an. Diego de
Saavedra Fajardo beschrieb schon 1670 die Gelehrtenrepublik als
eine von einem Tintengraben umgebene Stadt, deren Türme Papiermühlen waren und
von deren Stadtmauern man Papierkugeln abfeuerte. [46] Diese Stadt war ihm in
einem utopischen Traum erschienen, in den er nach langer und ermüdender Lektüre
gesunken war. Während Saavedra durch die Stadt schritt, traf er, geführt von
Polydorus Vergilius, auf einen großen Zollplatz, auf dem die Bücher aus aller
Welt angeliefert wurden. Sie wurden von Zensoren begutachtet, die jeweils auf
eine Wissenschaft spezialisiert waren. Zunächst sortierte man alle Bücher aus,
die nicht perfekt hergestellt und von zweifelhaftem Nutzen waren. Der für
juristische Literatur zuständige Zensor – wütend über die Massen der Schriften
– rief aus: „Oh Jupiter, wenn Du Dich schon um niedere Dinge kümmerst, warum
sendest du der Erde nicht alle hundert Jahre einen Justinian oder gotische
Heere, die diese allgemeine Überschwemmung mit Büchern bekämpfen?“ Einige der
Kisten übergab er ungeöffnet zum Feuermachen an die Wirtshäuser sowie zum
Fische braten und Speck einwickeln an die Kriminellen. Ohne hier auf das
Schicksal der poetischen und humanistischen Schriften einzugehen, sei noch
erwähnt, was mit den meisten historischen, medizinischen, philosophischen und
politiktheoretischen Schriften geschah: Einen Großteil der historischen
Schriften verwendete man zur Herstellung von Triumphbögen, Papierstatuen und
Girlanden. Aus medizinischen Büchern wurden Pfropfen für die Kanonen
hergestellt, aus philosophischen Papierkatzen und -hunde. Man erkennt, daß auch
die ausgesonderten Papiere durchaus ihren Nutzen fanden. Anders verhielt es
sich nur mit den aus nördlichen Ländern, aber auch mit aus Frankreich und Italien
kommenden politischen Traktaten. Sie wurden vom Zensor in kleine Stücke
zerrissen und dann den Flammen übergeben, weil – so gab er Saavedra zur Antwort
– sie soviel Gift enthielten, daß dies nur durch die Flammen gereinigt werden
konnte. Saavedra, bislang vom Schauspiel fasziniert, zuckte zusammen, er mußte
an die Genialität der Autoren und nicht zuletzt an seinen eigenen
Fürstenspiegel denken, so daß er schließlich den Blick abwenden mußte. [47]
Zwei Gefahren führen also im
utopischen Traum Saavedras zu diesem Umgang mit dem Schrifttum. Einerseits
gefährliche Inhalte, andererseits aber immer auch ihre schiere Menge und die
damit einhergehende inflationäre Entwertung von Schriften. Die Zensoren hatten
die Differenz zu setzen und über die Auswahl oder Aussonderung der Schriften zu
entscheiden. Ihre Kriterien hatten sich dabei längst den Bedingungen einer
Überfülle des Materials angepaßt: So wünschten sie sich die Goten zurück,
entschieden teilweise nach formalen Kriterien wie der äußeren Verarbeitungsqualität
der Bücher oder nach dem Zufallsprinzip, etwa beim Wegwerfen ungeöffneter
Kisten.
Es ist
deutlich geworden, daß beschriebenes Papier nicht nur selbst zu einer Waffe der
Wissenschaft und der Staatskunst geworden war, mit dem man von den Wällen der République des Lettres und aus der
Archiv-Festung von Simancas feuerte, sondern vor allem auch zu einer nach innen
gerichteten Bedrohung bzw. Herausforderung. Vor ihrem Hintergrund setzten sich
neue Kommunikations‑ und Verzeichnungsverfahren sowie -formate durch, die die
moderne Kultur des Umgangs mit empirischem Wissen, z.B. in Form von Tabellen
und Formularen, bis heute bestimmen. Die quantitative Zunahme der
Schriftlichkeit spielte dabei insofern eine entscheidende Rolle, als sie den
Druck zur Entwicklung ‚formaler’ Lösungen erhöhte und einen zusätzlichen
Legitimationsgrund für radikale Scheidungen darstellte.
Empfohlene Zitierweise:
Brendecke, Arndt: „Diese Teufel, meine Papiere ...“ Philipp II. von Spanien und das Anwachsen administrativer Schriftlichkeit , in: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten [Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07], www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de/index.php?ausg=3&id=51&subid=48 [Letzter Aufruf am xx.xx.xxxx]
Brendecke, Arndt
Studium der Neueren Geschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Politischen
Wissenschaften an der LMU München.
1999 Promotion mit dem Thema 'Die
Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung'.
Von 2000
bis 2006 Wissenschaftlicher Assistent von Prof. Dr. Winfried Schulze.
Seit
2006 Dilthey-Fellow der Fritz Thyssen Stiftung. Habilitand mit einem Projekt
zur Information des Spanischen Indienrates (16. und 17. Jahrhunderts) über
Neuspanien.