Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07)
 

Brendecke, Arndt

 
 

„Diese Teufel, meine Papiere ...“ Philipp II. von Spanien und das Anwachsen administrativer Schriftlichkeit [*]

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  Der Streifzug durch die Praktiken des Schriftgebrauchs hat gezeigt, daß es neben Strategien der reduktiven Weiterverarbeitungen in Kurzzusammenfassungen und der Markierung des Wichtigen (Eile!), neben Vernichtung und archivarischer Verwahrung, vor allem auch zur Etablierung dialogischer Schriftlichkeitsformate kam, wie sie hier an den mit einem breiten freien Rand versehenen consultas vorgestellt wurden und sich im Verwaltungsgebrauch z.B. als ‚halbbrüchiges Schreiben’ durchsetzten. [44] Besonders deutlich treten solche Funktionen bei Fragebögen, Listen und Tabellen hervor, nicht zuletzt natürlich auch bei tatsächlichen slot-and-filler-Formularen, also Lückentextformularen, wie sie in der Frühen Neuzeit geläufig wurden. [45] Diese Schreibformate etablierten sowohl administrative wie auch letztlich wissenschaftliche Verzeichnungsstandards, durch die nicht nur der Input von Empirie begrenzt wurde, indem sie die abzufragenden Parameter vorgaben. Solche ‚Formulare’ ermöglichen es daneben auch, standardisierte ‚Datensätze’ zu produzieren, die dann in internen Routinen sowohl der Bürokratie wie auch der Wissenschaft weiterverarbeitet, verglichen, und ‚verlustfrei’ in andere Formate übertragen werden können. Mehr oder weniger explizit bestimmen so Schreibregeln die Form und den Inhalt des Geschriebenen, die nicht alleine etwa Kriterien des Stils, der Ästhetik oder des Herkommens genügen, sondern den Gesetzen einer massenhaften oder zumindest seriellen Bearbeitung. Solche Schriften sind es, die sich in der Festung von Simancas ansammelten, aber eben auch in der Welt der Gelehrsamkeit. Papierene Schriftlichkeit wächst bis heute an. Diego de Saavedra Fajardo beschrieb schon 1670 die Gelehrtenrepublik als eine von einem Tintengraben umgebene Stadt, deren Türme Papiermühlen waren und von deren Stadtmauern man Papierkugeln abfeuerte. [46] Diese Stadt war ihm in einem utopischen Traum erschienen, in den er nach langer und ermüdender Lektüre gesunken war. Während Saavedra durch die Stadt schritt, traf er, geführt von Polydorus Vergilius, auf einen großen Zollplatz, auf dem die Bücher aus aller Welt angeliefert wurden. Sie wurden von Zensoren begutachtet, die jeweils auf eine Wissenschaft spezialisiert waren. Zunächst sortierte man alle Bücher aus, die nicht perfekt hergestellt und von zweifelhaftem Nutzen waren. Der für juristische Literatur zuständige Zensor – wütend über die Massen der Schriften – rief aus: „Oh Jupiter, wenn Du Dich schon um niedere Dinge kümmerst, warum sendest du der Erde nicht alle hundert Jahre einen Justinian oder gotische Heere, die diese allgemeine Überschwemmung mit Büchern bekämpfen?“ Einige der Kisten übergab er ungeöffnet zum Feuermachen an die Wirtshäuser sowie zum Fische braten und Speck einwickeln an die Kriminellen. Ohne hier auf das Schicksal der poetischen und humanistischen Schriften einzugehen, sei noch erwähnt, was mit den meisten historischen, medizinischen, philosophischen und politiktheoretischen Schriften geschah: Einen Großteil der historischen Schriften verwendete man zur Herstellung von Triumphbögen, Papierstatuen und Girlanden. Aus medizinischen Büchern wurden Pfropfen für die Kanonen hergestellt, aus philosophischen Papierkatzen und -hunde. Man erkennt, daß auch die ausgesonderten Papiere durchaus ihren Nutzen fanden. Anders verhielt es sich nur mit den aus nördlichen Ländern, aber auch mit aus Frankreich und Italien kommenden politischen Traktaten. Sie wurden vom Zensor in kleine Stücke zerrissen und dann den Flammen übergeben, weil – so gab er Saavedra zur Antwort – sie soviel Gift enthielten, daß dies nur durch die Flammen gereinigt werden konnte. Saavedra, bislang vom Schauspiel fasziniert, zuckte zusammen, er mußte an die Genialität der Autoren und nicht zuletzt an seinen eigenen Fürstenspiegel denken, so daß er schließlich den Blick abwenden mußte. [47]  

 

Zwei Gefahren führen also im utopischen Traum Saavedras zu diesem Umgang mit dem Schrifttum. Einerseits gefährliche Inhalte, andererseits aber immer auch ihre schiere Menge und die damit einhergehende inflationäre Entwertung von Schriften. Die Zensoren hatten die Differenz zu setzen und über die Auswahl oder Aussonderung der Schriften zu entscheiden. Ihre Kriterien hatten sich dabei längst den Bedingungen einer Überfülle des Materials angepaßt: So wünschten sie sich die Goten zurück, entschieden teilweise nach formalen Kriterien wie der äußeren Verarbeitungsqualität der Bücher oder nach dem Zufallsprinzip, etwa beim Wegwerfen ungeöffneter Kisten.

Es ist deutlich geworden, daß beschriebenes Papier nicht nur selbst zu einer Waffe der Wissenschaft und der Staatskunst geworden war, mit dem man von den Wällen der République des Lettres und aus der Archiv-Festung von Simancas feuerte, sondern vor allem auch zu einer nach innen gerichteten Bedrohung bzw. Herausforderung. Vor ihrem Hintergrund setzten sich neue Kommunikations‑ und Verzeichnungsverfahren sowie -formate durch, die die moderne Kultur des Umgangs mit empirischem Wissen, z.B. in Form von Tabellen und Formularen, bis heute bestimmen. Die quantitative Zunahme der Schriftlichkeit spielte dabei insofern eine entscheidende Rolle, als sie den Druck zur Entwicklung ‚formaler’ Lösungen erhöhte und einen zusätzlichen Legitimationsgrund für radikale Scheidungen darstellte.
 

Fussnote(n):
[44] Zu einer Variante dialogischen Schriftgebrauchs zwischen Handschrift und Druck vgl. Brendecke 2005.
[45] Dazu Brendecke 2003.
[46] Saavedra Fajardo [ 1655 ] 1967, 32.
[47] Die zuletzt genannte Bemerkung basiert auf einer späteren Überarbeitung des Manuskripts durch den Autor, da der Fürstenspiegel nach der República literaria abgefaßt worden war. Zu den Stellen vgl. Saavedra Fajardo [ 1655 ] 1967, 43–46.

 
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Empfohlene Zitierweise:

Brendecke, Arndt: „Diese Teufel, meine Papiere ...“ Philipp II. von Spanien und das Anwachsen administrativer Schriftlichkeit , in: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten [Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07],
www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de/index.php?ausg=3&id=51&subid=48
[Letzter Aufruf am xx.xx.xxxx]

 

Brendecke, Arndt

Studium der Neueren Geschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Politischen Wissenschaften an der LMU München.

1999 Promotion mit dem Thema 'Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung'.

Von 2000 bis 2006 Wissenschaftlicher Assistent von Prof. Dr. Winfried Schulze.

Seit 2006 Dilthey-Fellow der Fritz Thyssen Stiftung. Habilitand mit einem Projekt zur Information des Spanischen Indienrates (16. und 17. Jahrhunderts) über Neuspanien.

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