Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Spree, Reinhard

 
 

Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik. Der Krankenhauspatient in Vergangenheit und Gegenwart [*]

Artikel empfehlen  

  (Seite 1 von 9) nächste Seite

  "Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik": Dies Motto wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Veränderungen des Krankenhauses seit dem späten 18. Jahrhundert, sondern beschreibt auch den Wandel der Bedingungen, denen Krankenhauspatienten ausgesetzt waren bzw. heutzutage sind, und der Erfahrungen, die im Krankenhaus gemacht werden können - in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Im ersten Abschnitt meines Vortrags werde ich diesen Funktionswandel skizzieren, dabei verschiedene Phasen unterscheiden und auf die jeweiligen sozialpolitischen Intentionen eingehen (1). Die wichtigsten demographischen und sozialen Merkmale der Patientenpopulationen im Krankenhaus und deren Wandel vom späten 18. bis zum späten 20. Jahrhundert behandele ich im zweiten Abschnitt (2). Im dritten Abschnitt mache ich schließlich den Versuch, einiges über die Erwartungen der Patienten gegenüber der Krankenhausbehandlung zu sagen, über die Erfahrungen, die sie dabei machten, und über die markanten Veränderungen, denen beides im Laufe der neueren Geschichte unterlag (3).  

 

1. Phasen des Funktionswandels

 
  Im späten 18. Jahrhundert entstand in einigen Städten Europas, so auch in Deutschland, eine neuartige Institution innerhalb des Gesundheitswesens, das "Krankenhaus für heilbare Kranke". In zwei großen Schüben während der 1830er bis 1860er Jahre und dann erneut von ca. 1880 bis 1910 wuchs die Zahl der Anstalten und überproportional die der Betten sowie der verpflegten Patienten stark an. Dennoch war das Krankenhaus noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eher eine periphere Einrichtung im Rahmen der Gesundheitsversorgung. Die überkommene und während des gesamten 19. Jahrhunderts gültige Norm war, daß Krankheiten in der Familie kuriert wurden. Dabei bediente man sich selten ärztlicher Hilfe. In der Regel kam man mit Hausmitteln, nachbarschaftlichem Rat oder dem Beistand traditioneller Laienhelfer, etwa Hebammen, "Weiser Frauen", Schäfer etc., aus. Nur das gehobene Bürgertum und der Adel pflegten eine Gesundheitskultur, in die Ärzte einbezogen waren. Das Krankenhaus spielte in dieser Kultur jedoch keine Rolle.  

  Für wen errichtete man unter diesen Umständen Krankenhäuser? Wurden sie denn überhaupt benötigt?  Sie wurden gebaut und auch gebraucht von der während des 19. Jahrhunderts ständig anschwellenden Masse von Menschen, die fern der Heimat und somit fern der Familie Arbeit und Brot suchten. Hunderttausende waren pro Jahr als Arbeitsmigranten in Deutschland unterwegs. Diese konnten im Fall einer Krankheit nicht auf familäre oder nachbarschaftliche Hilfe zurückgreifen. Da sie typischerweise zugleich relativ arm waren und keine nennswerten Ersparnisse bilden konnten, waren sie auch nicht in der Lage, sich etwa Unterkunft und Pflege bis zur Heilung einer Krankheit zu kaufen. Man hat diese wachsende und zugleich vagierende Unterschichtenpopulation im Kontext des Pauperismus, der Massenverarmung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, "labouring poor" genannt. Zwar gab es zwei wichtige Teilgruppen dieser "labouring poor", die nach alter Tradition im Krankheitsfall auch fern der Heimat und ohne Familienrückhalt versorgt waren, die Handwerksgesellen und die Dienstboten. Für diese mußten eigentlich die Meister bzw. die Dienstherrschaften aufkommen. Doch entzogen sie sich seit dem späten 18. Jahrhundert immer häufiger ihren Pflichten oder konnten ihnen, so im Fall der vielfach verarmenden Handwerksmeister, auch immer schlechter nachkommen.  

Fussnote(n):
[*] Vortrags im Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung am 12. 7. 2001. Gekürzte Version.

    nächste Seite


[1]  [2]  [3]  [4]  [5]  [6]  [7]  [8]  [9]