Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Kröss, Katja

 
 

Vitellius, unfähiger Politiker und Tyrann? Eine quellenkritische Untersuchung.

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  Bereits am 1. Juli, also bevor Vitellius überhaupt in Rom angelangt war, wurde Vespasian nämlich in Ägypten durch den praefectus Aegypti zum Imperator ausgerufen, seine Truppen folgten zwei Tage später dessen Beispiel. Zeit zum Regieren hatte Vitellius demnach nicht, sondern dem Feldzug gegen Otho folgten fast anschließend die Vorbereitungen zum Feldzug gegen den Usurpator im Südosten. Zunächst sah es recht gut aus für den in Rom verweilenden Kaiser. Ein weiteres Mal bewies er militärisches Geschick, indem er durch Truppenanforderungen aus Germanien, Britannien und Spanien sowie die Verstärkung der in Afrika weilenden Legionen offenbar plante, an zwei Fronten gegen Vespasian vorzugehen. Doch Unruhen in den erstgenannten Provinzen brachten seinen Plan zum Scheitern, die geforderte Verstärkung blieb aus, und so war Vitellius allein auf seine in Italien stationierten Truppen angewiesen, während Vespasian Zulauf von den sich vom Kaiser benachteiligt fühlenden Balkanlegionen erhielt. Zudem finden sich in den Quellen Anzeichen dafür, dass just zu jener Zeit eine Epidemie in Italien ausbrach, die die dortigen Legionen zusätzlich schwächte. Der etwa in den Historien (III 2,2) gemachte Vorwurf, die Truppen seien "durch Zirkus und Theater sowie das angenehme Leben in der Hauptstadt" verweichlicht worden, ist hingegen zurückzuweisen - die beiden Feldzüge lagen zu eng beieinander, als dass die Soldaten wirklich die Zeit gefunden hätten, durch Lustwandeln ihre Kampfeskraft zu verlieren.
Als im September Antonius Primus, ein Feldherr Vespasians, überraschend in Norditalien einfiel und einen ersten Sieg gegen die dort stationierten Truppen errang, ergab sich für Vitellius die gleiche Situation wie für Otho einige Monate zuvor: Er war zu langsam gewesen beziehungsweise Vespasian zu schnell, und musste nun deswegen versuchen, die Invasion in Italien aufzuhalten. Ein Großteil der durch Krankheit geschwächten Truppen brach auf, Vitellius selbst blieb zurück - nach Tacitus (Hist. III 36,1) unbekümmert der Lage "wie das träge Vieh", seinem "ausschweifenden Lebenswandel" frönend, doch andere Andeutungen in den Historien sprechen dafür, dass auch er erkrankt und deshalb verhindert war, persönlich am Feldzug teilzunehmen. Die Lage verschlimmerte sich zunehmend. Caecina, einer seiner beiden Feldherren, wurde abtrünnig, wodurch die dringend benötigte Einigkeit im Heer zerbrach und Primus im Oktober bei Bedriacum einen zweiten Sieg verzeichnen konnte. In dieser Situation versuchte Vitellius verzweifelt alles, um die sich abzeichnende Niederlage zu verhindern, er vergab Konsulate für Jahre im Voraus, um sich der Zuneigung der Senatoren zu versichern und nahm nach Tacitus nun auch den Beinamen "Caesar" an, um sich eine zusätzliche Legitimationsbasis in der Konfrontation gegen Vespasian zu verschaffen, bot den Bundesgenossen neue Verträge an, verlieh das lateinische Bürgerrecht oder versprach Steuerprivilegien. Doch trotz kleinerer Erfolge einer zweiten Heeresgruppe waren alle diese Maßnahmen obsolet: Die Vitellianer mussten kapitulieren, und im Dezember standen die Flavianer vor den Toren Roms.
 

  Was nun folgte, beschreibt Tacitus (Hist. III 68,1) fast fassungslos mit den Worten "nihil tale viderant, nihil audierant", niemals sei derartiges gesehen, niemals derartiges gehört worden: Vitellius wollte abdanken. Das, was heute nach dem Scheitern eines Politikers als selbstverständlich gilt beziehungsweise gelten sollte, war damals undenkbar. Das Prinzipat war keine Magistratur, die auf einem Mandat basierte, ein Kaiser konnte nicht abdanken. Die einzige Möglichkeit, sich dieser Verpflichtung zu entziehen, war Ergebung oder aber der Tod - egal ob natürlicher Tod, Tod im Feld, Ermordung oder, wie Otho es "vorgestorben" hatte, Selbstmord, der in der römischen Mentalität als durchaus ehrenvoll angesehen wurde. Vitellius brachte diese Größe (in antikem Verständnis!) nicht auf, und versuchte es auf unkonventionellem Weg. Ob man nun der Version Suetons (Vit. 15,2-4) folgt, der von drei Abdankungsversuchen weiß - vor den drei Gruppierungen Heer, Plebs und Senat, die ihn auch zum Kaiser gemacht hatten -, oder der des Tacitus (Hist. III 67,2 - 68,3), der von einem einzigen spricht: Die Instanz, der Vitellius die Macht zwischen dem 18. und dem 20. Dezember übergeben wollte, die de facto aber nicht existierte, war der Senat, der trotz Propagierung seiner (republikanischen) Bedeutung in der senatorischen Literatur (etwa eines Tacitus) mit solchen Kompetenzen nichts mehr anzufangen wusste. Ähnlich wie bei Tiberius' Versuch fünfeinhalb Jahrzehnte zuvor, diesem etliche Aufgaben zurückzugeben, fiel auch nun die Reaktion der ehemals zentralen politischen Körperschaft aus, und Vitellius stieß auf völliges Unverständnis. Ob sein Abdankungsversuch ehrlich gemeint war oder aber eine Art antiker Vertrauensfrage darstellte, ist unmöglich zu beantworten. Fakt ist jedenfalls, dass er das Vertrauen aufgrund fehlender Alternativen erhielt, und in die Verantwortung gezwungen wurde.  

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