Die sogenannte 'Goldene Bulle' Karls IV. (1356)[4] legte schriftlich die Rechte und Pflichten der Kurfürsten fest. Sieben sollten
es sein, vier weltliche Kurfürsten – der König von Böhmen, der Pfalzgraf bei
Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg –, sowie drei
geistliche – die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, deren vornehmste
gemeinsame Aufgabe die Wahl des Kaisers war. Dazu erhielten sie gewisse
Privilegien, wie eine Zusicherung der Unteilbarkeit ihres Territoriums,
Festlegung der Erblichkeit auf Primogenitur (natürlich nur für die weltlichen
Fürsten), Bergwerks-, Münz-, und Gerichtsprivilegien, sowie sogenannte
'Erzämter'. Diese waren für die geistlichen Kurfürsten die Ämter als Erzkanzler
für die deutschen (Mainz), für die italienischen (Köln), und die burgundischen
Reichsgebiete (Trier). Die Erzämter der weltlichen Kurfürsten waren eher von
zeremonieller Bedeutung, wie beispielsweise das Erzmarschallsamt (bei Sachsen),
oder das Erzkämmereramt (bei Brandenburg).
Trotz der Festlegung auf sieben Kurfürsten hatte es schon vor dem RDH
Veränderungen im Kurkolleg gegeben. So geriet 1619 der 'Winterkönig' Friedrich
V. von der Pfalz wegen seiner Übernahme der böhmischen Krone unter Reichsacht
und verlor damit seine Kurwürde, die an Herzog Maximilian I. von Bayern fiel.
Als 1648 die Reichsacht aufgehoben wurde, erhielt der Pfalzgraf eine neue Kur.
Eine neunte Kur bekam Ernst-August I. von Branschweig-Lüneburg für großzügige
Unterstützung des Kaisers gegen die Türken zugesprochen. Als 1777 die
bayerischen Wittelsbacher ausstarben, fielen die bayerische Kur zurück an den
Pfalzgrafen – mitsamt ganz Bayern.
Der RDH sorgte schliesslich für die radikalste Umgestaltung des Kurkollegs.
Zwei der drei geistlichen Kuren wurden aufgelöst, die Kur des Reichserzkanzlers
und Erzbischofs von Mainz wurde nach Regensburg verlegt. Mit den vier neuen
Kuren existierten dann zehn Kurfürsten.
Die neuen Kurfürsten
§ 31. Die Kurwürde wird dem Erzherzoge Großherzoge [der Toskana] ertheilt, deßgleichen dem Markgrafen von Baden, dem Herzoge von Wirtemberg, und dem Landgrafen von Hessen-Kassel, welche, in Ansehung des Ranges unter sich, nach den im Fürstenrathe bestehenden Strophen alterniren werden, und zu ihrer Einführung die herkömmlichen Förmlichkeiten zu beobachten haben. Nach gänzlicher Erlöschung des Hauses Hessen-Kassel, in allen seinen Linien, wird die Kurwürde auf Hessen-Darmstadt übergehen.
RDH, § 31. In: Zeumer: Quellensammlung. S. 519.
So der entsprechende
Artikel im RDH. Auffällig ist, dass ein 'italienischer' Herzog eine 'deutsche'
Kurwürde erhielt. Als Herzogtum von Karl V. gegründet, war die Toskana seit
1569 Großherzogtum, 1735 fiel sie als Sekundogenitur an Habsburg. Im Zweiten Koalitionskrieg
wurde die Toskana von französischen Truppen besetzt
(1799). Dafür wurde der Großherzog nach § 1 des RDH
mit dem Erzbistum Salzburg, Teilen des Bistums Passau, und weiteren Ländereien
entschädigt.[5] Doch um auch seinen ehemaligen Rang im neu gestalteten Reich zu reflektieren,
wurde ihm eine der neuen Kurwürden verliehen, und Salzburg somit zu einem
Kurland.
Baden erhielt seine Kur vor allem aufgrund der engen verwandschaftlichen
Beziehungen zum russischen Zaren,[6] während Hessen-Kassel und
Württemberg mit der Kurwürde ein seit Generationen angestrebtes Ziel
erreichten.
Woher dieses Interesse an einer Kur? Das Streben nach
Rangerhöhungen war ein im gesamten Hochadel häufig betriebener 'Sport'. Um 1700
bemühten sich alle weltlichen Kurfürsten Königswürden zu erlangen. Dem
Pfalzgrafen war als König von Böhmen kein Erfolg vergönnt, den Kurfürsten von
Braunschweig-Lüneburg (bzw. Hannover), Sachsen und Brandenburg dafür um so mehr
als Könige von England, Polen und Preußen. Gleichzeitig ernannte der Kaiser im
17. Jahrhundert immer mehr neue Reichsfürsten, die zwar meist nur einen sehr
geringen Anteil an reichsunmittelbaren Territorien – eigentlich eine
Voraussetzung für Fürstenwürden – besaßen, dafür aber sehr pro-habsburgisch
eingestellt waren. Alles gute Gründe für die 'alten' Fürstenhäuser, sich um
eine Kur zu bemühen.
Und bemüht hatten sich zwei der neuen Kurfürsten – Württemberg und
Hessen-Kassel – seit beinahe hundert Jahren.[7] Die Hoffnungen dieser beider Häuser ruhten auf ihrer Position als größte und
mächtigste der 'normalen' Fürstenhäuser, was territoriale Ausdehnung,
Einwohnerzahl und ans Reich geleistete Steuern betraf. Hessen-Kassel – als
kleineres der beiden 'Daueranwärter' – konnte sich durch seine singuläre
militärische Stärke hervortun. So besaß der Landgraf bis zu 17.000 Mann unter
Waffen,[8] die der Landgraf großzügig vermietete. So kamen bereits im Jahre 1775 ganze 44%
der Einnahmen Hessen-Kassels aus Subsidien.[9] Die Gewinne aus dem langfristigen Subsidienvertrag mit Großbritannien 1776 [10] wurden zur Finanzierung eines umfangreichen Kredithandels eingesetzt, der
Wilhelm IX. – der letzte Landgraf und spätere Kurfürst Wilhelm I. – zum
reichsten Fürsten Deutschland machte.
Den europäischen Großmächten der Pentarchie,[11] bei denen beide Länder seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert immer wieder
wegen der Unterstützung ihrer Kurwünsche vorsprachen, war deren starke Rolle
durchaus bewusst.[12] Dabei hatten Österreich, Großbritannien und Preußen prinzipiell kein Interesse
an einer Erweiterung des Kurkollegs, vor allem Preußen aber nutzte
Hilfsversprechen geschickt aus, um Hessen-Kassel auf die eigene Seite zu
ziehen. Im Gegensatz dazu sprachen sich Frankreich und Russland generell für
neue Kurfürsten aus, um ihren Einfluss im Reich weiter zu verstärken. So schlug
Katharina II. 1785 für beide Fürstentümer eine Kurwürde vor. Später
positionierte sich Russland aber nur noch auf der Seite Württembergs,
Hessen-Kassel schien dort nicht mehr so interessant. Frankreich hingegen
versprach Hessen-Kassel bereits seit 1742 Unterstützung. Und schließlich war es
der französisch-russische Entschädigungsplan, der die Grundlage des RDH
bildete, und damit dem fürstlichen Bemühen erfolgreich zum Abschluss brachte.