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Gesellschaft
Spanien ist heute
von beinahe schon extrem zu nennenden Gegensätzen geprägt. Es gibt eine
bemerkenswert große Schicht äußerst konservativer und äußerst katholischer
Spanier, die noch nach denselben althergebrachten Strukturen und
Verhaltensmustern lebt, wie sie es etwa im Deutschland der 50er Jahre gab. So ist es beispielsweise nicht unüblich, dass
junge, unverheiratete Paare wegen eines Verbots ihrer Eltern nicht nur nicht
zusammenleben, sondern auch trotz Volljährigkeit nicht beim jeweils anderen
übernachten dürfen. Dieser Konservativismus drückt sich schon in der Sprache
aus, denn schließlich existiert im Spanischen für „Freundin“ und „Braut“ nur
ein und dasselbe Wort, novia. Für den männlichen Part gilt das gleiche,
also das Wort novio für „Freund“ und „Bräutigam“. Dieser
traditionsbewusste Teil der spanischen Gesellschaft wird allerdings längst
nicht nur von Personen jenseits der 60
gebildet, sondern es gehört auch ein
gewisser Teil der jüngeren Generation dazu. So kann man sich das Leben in einer
Wohngemeinschaft nicht automatisch so vorstellen, wie das in Deutschland üblich
ist. Vergleichbar wie in einer Pension leben einige auch junge Leute ausschließlich
deswegen zusammen, um weniger Miete zahlen zu müssen, haben ansonsten aber keinerlei
Interesse an einem wie auch immer gearteten Zusammenleben. Im Gegenteil, man
möchte so wenig wie möglich miteinander zu tun haben und sich gegenseitig am
besten in Ruhe lassen. Außerdem liegt es dann meist im Interesse aller
Beteiligten, dass nach einem Konzept der „ruhigen Wohnung“ gelebt wird, was
konkret heißt: Möglichst wenige Besucher, keine laute Musik und auch keine
lauten Unterhaltungen nach 11 Uhr im eigenen Zimmer. Bei einer solchen Wohnsituation wird es auch
meist nicht gern gesehen, wenn Herren- oder Damenbesuch über Nacht empfangen
wird, und zwar sowohl von den Mitbewohnern, als auch vom Vermieter, der in
Spanien häufig im gleichen Haus oder sogar in der selben Wohnung wohnen.
Auf der anderen
Seite gibt es gerade im universitären Bereich, zumindest an
geisteswissenschaftlichen Fakultäten, eine große, äußerst linke Szene. In der
Tradition der politischen Strömung der Anarcho-Syndikalisten, die besonders in
den 20er und 30er Jahren in Spanien eine wichtige Rolle spielte, sind die
Anarchisten von heute in- und außerhalb der Universität sehr aktiv. So werden
in regelmäßigen Abständen Demonstrationen und andere Protestveranstaltungen
organisiert, zum Beispiel gegen private Investoren an Universitäten oder wie
vor kurzem ein Streik gegen den Bologna-Prozess der Europäischen Union. Hin und
wieder werden in den Vorlesungen auch politische, zum Teil heftige Diskussionen
mit anders denkenden Professoren angestoßen. Im krassen Gegensatz zu den
konservativen Lebensentwürfen mancher Altergenossen steht bei vielen Studenten
auch das eher legere Verhältnis zu Drogen. So gehört innerhalb der Uni das Kiffen
zum alltäglichen Bild, und fast zu jeder Tageszeit wabern süßlich riechende Rauchschwaden
durch die Gänge. Der öffentliche Konsum beschränkt sich aber nicht nur auf
Haschisch oder Marihuana. In der Cafeteria kann es passieren, dass - sozusagen
am Esstisch - „Magic Mushrooms“ gegessen werden oder sogar ein braunes,
offensichtlich opiathaltiges Pulver geschnupft wird.
Neben diesen beiden Extremen ist natürlich ein großer Teil der
Gesellschaft weder besonders konservativ, noch besonders linksgerichtet. Doch
zumindest aus der Perspektive der heutigen Studierenden, die damals nicht selbst
dabei gewesen sind, können sich manchmal Assoziationen mit dem deutschen Studenten-Aufstand
von 1968 aufdrängen. Diese Vermutung verdichtet sich auch besonders vor dem
Hintergrund, dass seit dem Übergang zur Demokratie eine derartige Revolte und
eine damit verbundene Aufarbeitung des Bürgerkriegs (1936-1939) und der
faschistischen Vergangenheit in Spanien bis heute noch nicht stattgefunden hat.
Daher bestehen viele der wesentlichen Konfliktlinien von damals auch heute im Grunde
weiter. |
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