Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
 

Becker, Rainald

 
 

Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte

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  I

Die Entstehung des Bistums Chiemsee ging auf eine Initiative des Salzburger Erzbischofs Eberhard II. zurück [5]. 1215 errichtete dieser am bereits bestehenden Augustiner-Chorherrenstift Herrenchiemsee eine Diözese. Dabei wurde die Stiftskirche zur Kathedrale erhoben und das Kanonikerstift in ein Domkapitel umgewandelt. Der Salzburger Ordinarius hatte zunächst das Benediktinerinnenkloster auf der Fraueninsel als Standort des neuen Bistums vorgesehen, was freilich die Auflösung dieses traditionsreichen Konvents, man könnte auch sagen: dessen Säkularisierung zugunsten der neuen kirchlichen Institution zur Folge gehabt hätte. Es kann daher kaum überraschen, daß die Äbtissin der Fraueninsel dem Vorhaben scharfen Widerstand entgegensetzte und die römische Kurie erfolgreich gegen das erzbischöfliche Projekt mobilisierte. Eberhard II. rückte deshalb von seiner ursprünglichen Absicht ab und wich auf die benachbarte Herreninsel aus. Noch 1215 bestätigte Papst Innozenz III. auf dem IV. Laterankonzil in Rom die Gründung des neuen Bistums.

Die Erhebung Chiemsees zum Bischofssitz war in vielschichtige Entwicklungen eingebunden. Unterschiedliche theologische und politische, weltliche und geistliche Motive standen im Hintergrund seiner Gründung. An erster Stelle zu nennen ist das Movens innerkirchlicher Reform. Im Umfeld des Laterankonzils drängten Reformkreise auf eine Vertiefung der Seelsorge, auf den Ausbau der diözesanen Pastoral. Gerade die Erzdiözese Salzburg, einer der flächenmäßig ausgedehntesten Jurisdiktionsbezirke der Germania Sacra, ließ eine Reorganisation der pastoralen Strukturen geboten erscheinen. Deren Einzugsbereich erstreckte sich vom Inn im Westen bis zur ungarischen Grenze im Osten, von der Drau im Süden bis zum Dachstein und den niederösterreichischen Kalkalpen im Norden. Die Unwegsamkeit des Geländes - der östliche Alpenhauptkamm durchschnitt das Erzbistum in seiner ganzen Länge - mußte die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilräumen der Salzburger Kirche besonders erschweren. Um die Salzburger Zentrale mit den Rändern des Diözesangebiets stärker zu verzahnen, setzte Eberhard eine Reihe von Bischöfen ein, die ihn bei der Ausübung seines Hirtenamts vor Ort vertreten sollten. Denn nicht nur in Chiemsee, sondern auch in Seckau und Lavant, also in den steiermärkischen Teilen der Erzdiözese Salzburg, kam es 1218 und 1225 zur Errichtung von Bistümern. Vorbild aller dieser Bistumsgründungen war die Diözese Gurk, die bereits im 11. Jahrhundert für die Salzburger Anteile in Kärnten durch die Erzbischöfe eingerichtet worden war.

Mit dieser spektakulären Gründungswelle von Bistümern waren auch herrschaftliche Aspekte verbunden. Über ihre pastorale Nützlichkeit hinaus boten sie sich dem Salzburger Ordinarius als politische Instrumente an. Sie bildeten eine Machstütze, mit deren Hilfe der Erzbischof seine geistliche und weltliche Prärogative im zunehmend territorialstaatliche Formen gewinnenden Raum der österreichischen und bayerischen Länder wirkungsvoll zur Geltung bringen konnte. Besonders markant treten diese politischen Funktionsbezüge im Chiemseer Beispiel hervor: Der Bistumsgründer Eberhard wies dem Chiemseer Ordinarius einen fünf bis 20 Kilometer breiten und etwa 60 Kilometer langen Landkorridor im Westen seiner Erzdiözese als neuen Sprengel an. Er umfing fast das gesamte Nordufer des Chiemsees bei Eggstätt, ließ die Fraueninsel im Chiemsee jedoch außen vor und zog sich über das Tal der Tiroler Ache bis zum Kamm der Kitzbühler Alpen hin. Im Südwesten umfaßte der Sprengel das Brixental. Auffälligerweise berührte der aus der Erzdiözese Salzburg herausgelöste Bezirk nie den Inn und damit die Bistumsgrenze nach Freising. Die Kleindiözese bestand als von Salzburg gänzlich umschlossener Binnenraum ohne Anschluß an das Gebiet der unmittelbar benachbarten Reichsprälaten, der Bischöfe von Brixen und Freising.

Wenn man den geographischen Befund mit den langfristigen wirtschaftlichen und politischen Determinanten des ostbayerisch-salzburgischen Raums in Beziehung setzt, dann wird das Kalkül deutlich, auf das die Salzburger Erzbischöfe mit diesem Gebietszuschnitt abzielten: Herrschaftlich gesehen lag das Bistum zunächst zwar fast gänzlich in der Interessensphäre der bayerischen und Tiroler Herzöge, während nur ein kleinere Zone um Brixen im Tal zum Erzstift, also zum weltlichen Herrschaftsbereich der Salzburger Oberhirten gehörte. Aber immerhin erschloß das Bistum mit der über Kitzbühl führenden Straße zum Paß Thurn einen Hauptverkehrsweg im Alpentransit nach Italien. Neben der ökonomischen Bedeutung war das geopolitische Gewicht Chiemsees nicht zu verachten: Als Landbrücke in der Westflanke des späteren Erzstifts gelegen, sicherte der Sprengel den salzburgischen Einfluß bis tief nach Bayern hinein. Aus erzbischöflicher Sicht kam Chiemsee eine strategische Aufgabe zu, die der weiter nördlich situierten Salzburger Nebenresidenz Mühldorf am Inn vergleichbar war. Beide Stützpunkte sollten die Präsenz der bayerischen Herzöge neutralisieren, die mit Reichenhall eine Schlüsselstellung am Rand der Ostalpen in unmittelbarer Nähe zu Salzburg besetzt hielten.
 

Fussnote(n):
[5] Vgl. zum Folgenden: Heim, Manfred, Bistum Chiemsee, in: Gatz, Erwin (Hg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg/Brsg. 2003, S. 158-163 (Literatur); Ders., Das Bistum Chiemsee in der Germania Sacra, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 68 (2005) (Ackermann, Konrad / Rumschöttel, Hermann (Hg.), Bayerische Geschichte, Landesgeschichte in Bayern. Festgabe für Alois Schmid zum 60. Geburtstag) S. 393-405; ferner Moÿ, Johannes von, Das Bistum Chiemsee, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 122 (1982) S. 1-50.

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