Die starke Einbindung der Ecclesia Chimensis in die kirchen- und territorialpolitischen Konzeptionen der Salzburger Erzbischöfe wirkte sich auch auf deren innere Struktur aus. Institutionell und verfassungsrechtlich war das Bistum eng an die Salzburger Kirche angelehnt. Insbesondere in der ungewöhnlichen Tatsache, daß der Ordinarius nicht vom Domkapitel gewählt wurde, sondern vom Salzburger Erzbischof nominiert, konsekriert und in seine weltlichen Güter investiert wurde, deutet sich ein hoher Grad an Abhängigkeit an. Zusammen mit Gurk, Seckau und Lavant, wo der Salzburger Erzbischof ebenfalls über das alleinige oder doch ein weitgehendes Nominationsrecht verfügte, gehörte Chiemsee zur Gruppe der sogenannten Mediatbistümer, also zu einem kirchlichen Verfassungstypus, der in der Germania Sacra eher selten anzutreffen war [6]. In der Regel beruhte die Diözesanorganisation im Reich auf zwei Säulen, nämlich einmal der korporativen Autonomie der Bischofskirche. Vor allem in dem sich seit dem Hochmittelalter verfestigenden Recht der Domkapitel, den Bischof selbständig aus eigenen Reihen zu bestimmen, fand dieses gegen päpstliche und kaiserliche, aber auch gegen landesfürstliche Ansprüche verfochtene Freiheitsprinzip seinen Ausdruck. Zum anderen stützte sich die Bischofsmacht auf die Tatsache weltlicher Herrschaftsausübung. Im Hochstift, dessen Ausdehnung nie mit den Grenzen der Diözese im engeren Sinn übereinstimmte, das also nicht mit dem Amtsbezirk der geistlichen Jurisdiktion zu verwechseln ist, war der Bischof selbst Landesherr, damit fürstengleich und reichsunmittelbar.
Im Gegensatz dazu besaß der Chiemseer Bischof kein eigenes Territorium. Seine Kathedrale lag im Territorium der Herzöge und späteren Kurfürsten von Bayern. Auch fehlten ihm die sonstigen Attribute fürstbischöflicher Würde: Er verfügte zunächst über keinen festen Sitz. So kam es weder auf der Herreninsel selbst noch im Bistumsgebiet zu einer dauerhaften Residenzbildung, ein entscheidendes Merkmal spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Staatswerdung. Im 13. Jahrhundert übte der Bischof sein geistliches Amt im Rahmen einer ‚Reiseherrschaft' aus. Wahlweise von Bischofshofen an der Salzach oder von den Burgen Fischhorn und Anif, aber immer von außen aus dem Erzbistum Salzburg heraus, regierte der Oberhirte seinen gerade einmal aus elf Pfarreien bestehenden Sprengel. Zwar ist ab dem 14. Jahrhundert eine topographische Zentrierung der Residenzfunktionen zu beobachten. So nahm der Bischof seinen dauerhaften Aufenthalt in der Stadt Salzburg, in einer eigenen Kurie, dem sogenannten Chiemseehof, der heute der Salzburger Landesregierung als Amtssitz dient [7]. Gleichwohl unterstrich diese Entwicklung nur die Abhängigkeit der Chiemseer Ordinarien von den Salzburger Erzbischöfen, denen sie zwar im strikten Sinn des Kirchenrechts gleichgeordnet, aber aus historischen und politischen Gründen eben doch untergeordnet waren.
Der Eindruck kleiner, zugleich höchst komplexer Lebensverhältnisse verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, daß auch die Pontifikalgewalt des Chiemseer Bischofs eingeschränkt war. In Gestalt des Dompropsts von Herrenchiemsee stand ihm ein Konkurrent gegenüber. Aus der Tatsache, daß die alte Chiemseer Stiftspropstei von jeher mit dem Archidiakonat verknüpft war, leitete dieser weitgehende geistliche Aufsichtsrechte über die westlichen Teile der Erzdiözese ab. Mit anderen Worten: Die Dompröpste erkannten zwar das neugegründete Bistum an, weil dies ihrem Prestigestreben entgegenkam. Aber sie bestritten dem neuen Ordinarius unter Berufung auf ihre angestammte archidiakonale Würde sämtliche jurisdiktionellen Rechte [8]. In der Praxis mußte dieser Zwiespalt zu einem Dauerkonflikt um die Kompetenzen führen. Nur einige Beispiele: Sich gegenseitig konkurrenzierend, beanspruchten sowohl Bischöfe als auch Pröpste das Visitationsrecht für die diözesanen Pfarreien. Wie der Bischof berief auch der Propst regelmäßig den Seelsorgeklerus zu Synoden ein. Erst mit den kirchlichen Reformen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts entspannte sich diese schwierige Situation für den Chiemseer Episkopat. Vor allem das Tridentinum zielte unter Zurückdrängung mittelalterlicher kirchlicher Rechtsbestände auf eine juristische und ideelle Aufwertung des Bischofsamts.
Dennoch konnte der Gegensatz zwischen Bischof und Propst nie aufgehoben werden. In ihm ist auch der Hauptgrund dafür zu sehen, warum sich auf der Herreninsel keine bischöfliche Residenz ausbilden konnte. Nach seiner Erhebung zum Domstift blieb das Kanonikerstift im Chiemsee eine völlig eigenständige geistliche Korporation, stets auf seine größtmögliche wirtschaftliche und rechtliche Unabhängigkeit bedacht, während der Bischof - von seiner Diözese räumlich getrennt - vorwiegend in Salzburg residiert und hier vor allem den Erzbischof in der geistlichen Administration seiner weiträumigen Diözese unterstützt hat. Die Durchführung von Kirchweihen, Firmreisen, die Visitation von Pfarreien und Klöstern in Vertretung des Salzburger Reichsprälaten, dieses Aufgabenfeld bestimmte das Tätigkeitsprofil der Chiemseer Bischöfe. Sie hatten damit - und so hätte eine erste Bilanz zu lauten - den Status von Salzburger Weihbischöfen inne. Es ist kein Zufall, daß dieses Amt in der alten Salzach-Metropole in regulärer Form nie existiert hat. Man griff bei Bedarf auf die Chiemseer Ordinarien zurück, deren Residenz sich in Reichweite der Salzburger Erzbischöfe befand. [9]