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Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
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Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07) |
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Baumeister, Martin
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Vor der movida: Madrid und die widersprüchliche Modernisierung Franco-Spaniens[*]
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spontane Wachstum der Stadt, die sprunghafte Vermehrung der von den Zuwanderern
selbst errichteten Unterkünfte, die zu eigenen Stadtteilen heranwuchsen, war
Folge der Anpassung an eine extreme Not- und Mangelsituation. Die offiziellen
Stellen wussten dem Elend wenig entgegenzusetzen und unternahmen lange Zeit nur
vereinzelte, unsystematische Anstrengungen, gegen das Problem der unregulierten
Ausbreitung der Stadt vorzugehen. Der Bau von Hüttensiedlungen, sog.
“chabolas”, die ihre Bewohner oft im Schutz der Nacht mit billigen Materialen
wie Wellblech, Dachpappe und Brettern errichteten, bildete in den 40er und 50er
Jahren für die Zuwanderer neben dem “realquiler”, dem dichtgedrängten Hausen
zur Untermiete, den einzigen Ausweg angesichts der katastrophalen
Unterversorgung mit Wohnraum. Die Wohnsituation in den Hütten, in der
Amtssprache “infraviviendas” genannt, war ähnlich beengt wie in den
überbelegten Räumen zur Untermiete. Dennoch wiesen die in Eigeninitiative
errichteten Behausungen, die zunächst Minimalstandards in Bauqualität, Wasser-
und Energieversorgung nicht einmal annähernd gewährleisten konnten, in den
Augen ihrer Nutzer gewisse Vorteile auf, wie z.B. eine gewisse Nähe zu
ländlichen Wohn- und Lebensformen mit engen nachbarschaftlichen Beziehungen,
der Kleintierhaltung im eigenen kleinen Hof sowie der Möglichkeit, den Bau in
einem – freilich sehr eng begrenzten Rahmen – an die individuellen Bedürfnisse
anzupassen. Die “informelle Stadt” an der städtischen Peripherie, die in dicht
gedrängten Agglomerationen von Hütten Tausenden von Zuwanderern aus dem
ländlichen Spanien in Madrid ein Dach über dem Kopf bot, war keineswegs ein
Auffangbecken marginaler Existenzen am Rand der Legalität. Ihre Bewohner lebten
und wirtschafteten nicht wie in zahlreichen Slumsiedlungen der sog. Dritten
Welt in einer “informellen Ökonomie”, bedroht von der Geisel der Arbeits- und
Perspektivenlosigkeit, vielmehr wäre ohne ihre Arbeitskraft die industrielle
und urbane Entwicklung der Metropolen nicht möglich gewesen. Ihren elenden
Unterkünften entsprachen äußerst harte, oft gesundheitsgefährdende
Arbeitsbedingungen und bis in die 60er Jahre hinein von der repressiven Politik
des Regimes gegenüber jedem Protest abgeschirmte Löhne unterhalb der Grenzen
des Existenzminimums, die zum Überleben einer Familie die restlose
Selbstausbeutung und den Einsatz eines jeden verfügbaren Angehörigen
erforderten. Die Welt der “chabolas” war von durchaus komplexen, dem Blick
Außenstehender meist entzogenen Regeln bestimmt, die den in der Grauzone
operierenden Grundstücks- und Mietmarkt, den Handel mit Baumaterialien, den
Zugang zu Ressourcen wie Wasser und Elektrizität, die Organisation informeller
Kontrolle und Abhängigkeiten oder auch die Beziehungen zu Vertretern der
städtischen und staatlichen Behörden betrafen. Der chabolismo als Massenphänomen war ein Produkt der Nachkriegszeit,
das sich noch bis Anfang der 80er Jahre bemerkbar machte. Die infraviviendas
stellten jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Im chabolismo kamen die gravierenden Defizite in der Versorgung der
städtischen Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaft, mit Wohnraum am
deutlichsten zum Vorschein. Nach Berechnungen für das Jahr 1975, das Todesjahr
Francos, verfügten 53%, d.h. 587.000 von 1,09 Millionen Familien der Hauptstadt
über keine angemessene, d.h. minimalen Größen- und Ausstattungsstandards
genügende Wohnung – ein Umstand, der einer sozialen Bankrotterklärung des
seinem Ende entgegen treibenden Regimes gleichkam. |
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