Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07)
 

Baumeister, Martin

 
 

Vor der movida: Madrid und die widersprüchliche Modernisierung Franco-Spaniens[*]

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  Das spontane Wachstum der Stadt, die sprunghafte Vermehrung der von den Zuwanderern selbst errichteten Unterkünfte, die zu eigenen Stadtteilen heranwuchsen, war Folge der Anpassung an eine extreme Not- und Mangelsituation. Die offiziellen Stellen wussten dem Elend wenig entgegenzusetzen und unternahmen lange Zeit nur vereinzelte, unsystematische Anstrengungen, gegen das Problem der unregulierten Ausbreitung der Stadt vorzugehen. Der Bau von Hüttensiedlungen, sog. “chabolas”, die ihre Bewohner oft im Schutz der Nacht mit billigen Materialen wie Wellblech, Dachpappe und Brettern errichteten, bildete in den 40er und 50er Jahren für die Zuwanderer neben dem “realquiler”, dem dichtgedrängten Hausen zur Untermiete, den einzigen Ausweg angesichts der katastrophalen Unterversorgung mit Wohnraum. Die Wohnsituation in den Hütten, in der Amtssprache “infraviviendas” genannt, war ähnlich beengt wie in den überbelegten Räumen zur Untermiete. Dennoch wiesen die in Eigeninitiative errichteten Behausungen, die zunächst Minimalstandards in Bauqualität, Wasser- und Energieversorgung nicht einmal annähernd gewährleisten konnten, in den Augen ihrer Nutzer gewisse Vorteile auf, wie z.B. eine gewisse Nähe zu ländlichen Wohn- und Lebensformen mit engen nachbarschaftlichen Beziehungen, der Kleintierhaltung im eigenen kleinen Hof sowie der Möglichkeit, den Bau in einem – freilich sehr eng begrenzten Rahmen – an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Die “informelle Stadt” an der städtischen Peripherie, die in dicht gedrängten Agglomerationen von Hütten Tausenden von Zuwanderern aus dem ländlichen Spanien in Madrid ein Dach über dem Kopf bot, war keineswegs ein Auffangbecken marginaler Existenzen am Rand der Legalität. Ihre Bewohner lebten und wirtschafteten nicht wie in zahlreichen Slumsiedlungen der sog. Dritten Welt in einer “informellen Ökonomie”, bedroht von der Geisel der Arbeits- und Perspektivenlosigkeit, vielmehr wäre ohne ihre Arbeitskraft die industrielle und urbane Entwicklung der Metropolen nicht möglich gewesen. Ihren elenden Unterkünften entsprachen äußerst harte, oft gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen und bis in die 60er Jahre hinein von der repressiven Politik des Regimes gegenüber jedem Protest abgeschirmte Löhne unterhalb der Grenzen des Existenzminimums, die zum Überleben einer Familie die restlose Selbstausbeutung und den Einsatz eines jeden verfügbaren Angehörigen erforderten. Die Welt der “chabolas” war von durchaus komplexen, dem Blick Außenstehender meist entzogenen Regeln bestimmt, die den in der Grauzone operierenden Grundstücks- und Mietmarkt, den Handel mit Baumaterialien, den Zugang zu Ressourcen wie Wasser und Elektrizität, die Organisation informeller Kontrolle und Abhängigkeiten oder auch die Beziehungen zu Vertretern der städtischen und staatlichen Behörden betrafen. Der chabolismo als Massenphänomen war ein Produkt der Nachkriegszeit, das sich noch bis Anfang der 80er Jahre bemerkbar machte. Die infraviviendas stellten jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Im chabolismo kamen die gravierenden Defizite in der Versorgung der städtischen Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaft, mit Wohnraum am deutlichsten zum Vorschein. Nach Berechnungen für das Jahr 1975, das Todesjahr Francos, verfügten 53%, d.h. 587.000 von 1,09 Millionen Familien der Hauptstadt über keine angemessene, d.h. minimalen Größen- und Ausstattungsstandards genügende Wohnung – ein Umstand, der einer sozialen Bankrotterklärung des seinem Ende entgegen treibenden Regimes gleichkam.  

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