Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 02 - Sommersemester 06)
 

Dettenhofer, Maria H.

 
 

Basisdemokratie und politische Verantwortung
Denkanstösse aus dem klassischen Athen[*]

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Das demokratische System der Athener

 
  Zur Ekklesía hatte jeder erwachsene männliche Bürger Athens Zutritt, damit verbunden waren Stimm- und Initiativrecht. Für besondere Beschlüsse galt ein Quorum von 6 000 Männern. Bei etwa 30 000 bis 35 000 stimmberechtigten Bürgern während der Blütezeit der Demokratie bedeutet das, dass ein Fünftel der Bürger anwesend sein musste, damit das Volk als präsent galt.[6] Bei der athenischen Demokratie handelte es sich also um eine Basisdemokratie.
In einer antiken Polisgesellschaft, die in allen Lebensbereichen ganz selbstverständlich eine face-to-face Society war, wäre eine repräsentative Vertretung kaum als "demokratisch" angesehen worden. Die Vorstellung von Parteidisziplin oder gar vom "Parteisoldaten" hätte angesichts des griechischen Verständnisses von demokratischer Freiheit bestenfalls Stirnrunzeln hervorgerufen. Definierte politische Parteien, die, hierarchisch organisiert, ihre Wurzel in einer Orientierung an ideologischen Vorstellungen haben und überdies von einer Wirklichkeit bzw. gesellschaftlichen Grundlagen ausgehen, die in dieser Form vielleicht nur noch in Rudimenten vorhanden sind, existierten nicht. Statt dessen gab es Parteiungen, die sich je nach Sachfrage immer neu gruppierten. Natürlich gab es auch im antiken Athen politische Freundschaften, Interessengemeinschaften und Gefälligkeiten, Seilschaften und Klüngel.[7] Aber durch jeweils neue, an Sachfragen orientierte Gruppierungen und das Fehlen parteipolitischer Einrichtungen sowie organisierter Interessenverbände konnten diese tendenziell negativ konnotierten meta-institutionellen Strukturen, die in der modernen, parteipolitisch ausgerichteten Demokratie ebenso vorhanden sind, viel schwerer ein ausgeprägtes Maß an Kontinuität gewinnen.
Der Prozess der Meinungsbildung erfolgte in Athen vornehmlich in der Ekklesía und - auf die bestehenden Gesetze geprüft und zur Beschlussfassung vorbereitet -  im Rat, der Boulé.[8] Die Ekklesia trat wegen ihrer umfangreichen Zuständigkeiten denn auch relativ häufig zusammen. Im 4. Jahrhundert v. Chr. gab es allein 40 vorgeschriebene Sitzungen im Jahr. Das "Volk von Athen" versammelte sich ursprünglich auf der Agora, dem Marktplatz, später an anderen geeigneten Orten, der Pnyx oder dem Dionysostheater. Die Sitzungen begannen bei Sonnenaufgang und endeten spätestens bei Sonnenuntergang.[9] Die Abstimmungen erfolgten durch Heben der Hand, wobei übrigens das Resultat nicht gezählt, sondern geschätzt wurde. War ein Abstimmungsergebnis nicht eindeutig, konnte die Abstimmung wiederholt werden. Sie musste sogar wiederholt werden, wenn ein Bürger dies durch einen formellen beeideten Protest verlangte. Es entschied die einfache Mehrheit. Stimmenthaltung gab es nicht; wer die Hand nicht zur Abstimmung erhob, zählte faktisch zu den Ablehnenden. Den Vorsitz führte jeden Tag ein anderer Mann aus den Reihen der 500 jährlich wechselnden Ratsherren. Die Aufgabe des Vorsitzenden beschränkte sich jedoch auf die formale, nicht die inhaltliche Leitung der Versammlung, wobei besonders darauf geachtet wurde, dass dieser Mann keine herausragende Rolle spielte.
 

Fussnote(n):
[6] Ausführliche und systematische Beschreibung der Ekklesia bei Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn et al. 1994, 2. Aufl., S. 161-183. Siehe auch Philippe Gauthier, Quroum et participation civique dans les démocraties grecques, in: C. Nicolet (Hg.), Du pouvoir dans l'antiquité: mots et reálités, Genf 1990, S.73-99.
[7] Dazu und zu gängigen Manipulationspraktiken Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie (Anm. 6) S. 169-170; Josiah Ober, Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule, Princeton University Press, Princeton, New Jersey 1998.
[8] Josiah Ober, Mass and Elite in Democratic Athens (Anm. 1), S. 132-138.
[9] Siehe dazu auch Aristophanes, Ekklesiazusai, Verse 290-310.

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