Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
 

Becker, Rainald

 
 

Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte

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  2.) Bildung und kulturelle Aktivitäten: Auch die akademische Qualität des Chiemseer Episkopats ist mit eindeutigen Daten zu belegen: Zwischen 1448 und 1648 läßt sich bei allen Bischöfen ein Universitätsstudium nachweisen. Mehr als zwei Drittel aller Oberhirten konnten zudem einen höheren akademischen Grad, ein Lizentiat oder einen Doktortitel, vorweisen. Im interdiözesanen Vergleich betrachtet, nahmen sie damit zwar eine Spitzenplatz ein. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Akademisierung der geistlichen Führungsschichten auch in den anderen Bistümern der Salzburger Kirchenprovinz weit vorangeschritten war. Seit dem 15. Jahrhundert brachte in Passau, Brixen, Freising und Regensburg, in den Mediatbistümern Gurk, Lavant, Seckau, ferner in Wien und Wiener Neustadt nahezu jeder Amtsträger zumindest ein Minimum an Studienerfahrungen mit [16]. Was den Fall der Chiemseer Bischöfe einzigartig macht, ist ein anderer Umstand. Auffällig ist die Gediegenheit ihrer universitären Laufbahn, die Internationalität ihrer Studienwege. Der Hochschulaufenthalt nicht nur im Reich, an einer der zahlreichen Landesuniversitäten, etwa in Wien oder in Ingolstadt, sondern auch in Italien, dem Zentrum der juristischen Wissenschaften, gehörte zum dominanten Merkmal der Chiemseer Bischofskarriere. Mit Silvester Pflieger, Bernhard von Kraiburg und Ludwig Ebmer an der Universität Padua, mit Georg Altdorfer in Bologna, mit Christoph Mendel in Pavia, mit Berthold Pürstinger in Perugia, schließlich mit Ägidius Rehm an den Hohen Schulen von Paris, Padua, Pavia und Rom sind einige, für die Situation um 1500 charakteristische Beispiele benannt [17]. Nicht weniger vermochten sich die Adelsbischöfe des frühen 17. Jahrhunderts dem Reiz der italienischen Grand Tour zu entziehen, wenngleich sich bezüglich der Studieninhalte bereits eine markante Trendwende abzeichnete. Hatten die Chiemseer Ordinarien des 15. Jahrhunderts noch das juristische Fach bevorzugt, so rückte nun die Theologie in den Vordergrund, wie sie in kompakter Form etwa an der römischen Jesuitenuniversität, dem Collegio Romano, gelehrt wurde [18].

Die Chiemseer Bischöfe artikulierten sich auch in der gelehrten Praxis. Weit verbreitet war etwa das Interesse an literarischer Aktivität. Mehrere Ordinarien traten als Schriftsteller hervor, so etwa Bernhard von Kraiburg als Verfasser eines Brieftraktats über die türkische Eroberung von Konstantinopel 1453 und als Autor einer Leichenklage über den Tod von König Ladislaus von Böhmen 1457 [19]. Zu erwähnen ist das umfangreiche theologische Oeuvre von Berthold Pürstinger, der sich für die anonym erschienene kirchenreformerische Flugschrift "Onus Ecclesiae" verantwortlich zeichnete und 1527 unter dem Eindruck der Reformation eine altkirchliche Dogmatik in deutscher Sprache, die "Tewtsche Theologey", herausbrachte [20]. Politisches und Zeitgeschichtliches spiegelt der "Salzburger Bauernkrieg", ein Bericht über die Bauernaufstände von 1525, von Ägidius Rehm wider [21]. Und auf Silvester Pflieger und dessen sich ebenfalls literarisch-publizistisch äußernde Humanistenfreundschaft mit Enea Silvio Piccolomini wurde bereits hingewiesen.

3.) Präsenz in der höfischen Welt: Am markantesten zeigt sich die weit über das Lokale hinausgehende Bedeutung des Chiemseer Episkopats an seiner engen Verbindung mit der höfisch-politischen Szene. Nicht nur rekrutierten sich zahlreiche bischöfliche Würdenträger aus den Verwaltungsrängen von Kirche, Universität und Staat. Sehr häufig blieben sie auch nach ihrem Eintritt in das Bischofsamt mit ihren ursprünglichen professionellen Lebenszusammenhängen verbunden. Hier ist das in der bisherigen Forschung vielleicht zu stark akzentuierte Bild vom Chiemseer Bischof als Salzburger Weihbischof doch zu revidieren. Die Aufgaben der Inselbischöfe erschöpften sich nicht in der Pastoral. Sie fungierten nicht nur als Vikare der Salzburger Erzbischöfe, die ihren seelsorglichen Belangen aufgrund ihrer reichspolitischen Stellung nicht mehr gerecht werden konnten. Im Gegenteil: Die Chiemseer Bischöfe standen im intellektuellen Zentrum der jeweiligen Macht. Sehr häufig bestimmten sie die Leitlinien der erzbischöflich-salzburgischen Politik, oftmals griffen sie ordnend in den Lauf der kaiserlichen oder landesfürstlichen Regierung ein - eben weil es sich bei ihnen um einen umfassend gebildeten, auf höfisch-diplomatischen Parkett erfahrenen Expertenkreis handelte.

Ein letzter biographischer Ausgriff kann dies verdeutlichen: Bernhard von Kraiburg, ein Kaufmannssohn aus dem gleichnamigen, heute oberbayerischen Marktort am Inn, zwischen 1410 und 1420 geboren, besuchte ab 1437 die Universität Wien. Er studierte hier die artes und übernahm zugleich philosophische Vorlesungen. Noch während seines Studiums wurde er als Rat an den Salzburger Hof gezogen, wo er sehr rasch zum Kanzler aufstieg und damit die Hauptverantwortung für alle Bereiche der erzbischöflichen Politik erlangte. Zeitgleich setzte er seine Ausbildung fort. Für 1460 ist seine Promotion zum Doktor des Kirchenrechts an der Universität Padua belegt. Zugleich war man auf den offenbar hoch begabten Klerikerjuristen am päpstlichen Hof aufmerksam geworden. Denn Kraiburg trat - parallel zu seiner Tätigkeit in Salzburg - in den kurialen Dienst ein. Er wurde vom Papst als Legat ad partes Alamanniae im Rahmen verschiedener diplomatischer Missionen an den Hof Kaiser Friedrichs III. und an mehrere Reichstage gesandt. 1467 erhielt er dann die Chiemseer Bischofsmitra, ohne indes seine weltlichen Amtstätigkeit für die Salzburger Erzbischöfe aufzugeben [23]. Dabei blieb Kraiburg kein Einzelfall. Die Doppelverwendung von Chiemseer Bischöfen in der salzburgisch-erzbischöflichen Verwaltung einerseits und der päpstlichen oder kaiserlichen Administration andererseits läßt sich noch häufiger beobachten.

 
IV

Mehrdimensionale Funktionalität, mit diesem Leitbegriff könnte man die Besonderheit des Bistums im Chiemsee resümierend beschreiben: Als pastorales Entlastungsinstrument von den Salzburger Erzbischöfen konzipiert, als Vorposten salzburgischer Interessen - ob nun weltlich-politischer oder geistlich-religiöser Art - im Bayerischen gegründet, entwickelte sich der Diözesansitz zu einem Brennpunkt kirchlicher Intellektualität in der süddeutschen Germania Sacra. Das Seebistum bot zumindest in der Phase des ausgehenden Mittelalters, am Übergang in die Neuzeit zahlreichen Gelehrten, Juristen ebenso wie Theologen, Auskommen und Entfaltungsmöglichkeiten. Über die engere geistliche Funktionsbindung hinaus diente die Herreninsel der kulturellen Grundversorgung. Sie stellte Ressourcen bereit für den Unterhalt von wissenschaftlichen Eliten, ein Element, auf das sich die kontinuierliche Modernisierung, man könnte auch sagen: die stete Innovation der alteuropäischen Gesellschaft stützte.

Es waren diese vielfältigen, miteinander verwobenen Funktionsebenen, die bei den Zeitgenossen auf Aufmerksamkeit und Bewunderung stießen, die Johann Jakob Schmauß, immerhin einen Repräsentanten der norddeutschen Frühaufklärung, vom besonderen "Splendeur" bayerisch-österreichischer Kirchlichkeit sprechen ließen. Eine Zukunft sollte diesem Modell freilich nicht beschieden sein. Mit der Säkularisation wurde diese Tradition durchschnitten, wandelte sich die Insel im Chiemsee vom Vorort intellektueller Universalität zum Residuum romantischer Selbstbezogenheit. Damit war der Weg gewiesen in eine programmatische Provinzialität, die zwar einen idealen Rahmen für die architektonischen Eskapaden eines an sich selbst und seiner Zeit zweifelnden Monarchen bot, die sich aber aus dem Lauf der Geschichte längst verabschiedet hatte.
 

Fussnote(n):
[16] Vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 151 (Tabelle 5).
[17] Belege zu diesen bischöflichen Akademikerviten ebd., S. 425-428 (Biogramme Nrr. 143: Pflieger, 145: Kraiburg, 146: Altdorfer, 147: Ebmer, 148: Mendel von Steinfels, 149: Pürstinger und 150: Rehm).
[18] Generell zur römischen Jesuitenuniversität García Villoslada, Ricardo, Storia del Collegio Romano dal suo inizio (1551) alla soppressione della Compagnia di Gésu (1773) (Analecta Gregoriana. Series facultatis historiae ecclesiasticae A, 2), Roma 1954; ferner Romano, Antonella, Il mondo della scienza, in: Ciucci, Giorgio (Hg.), Roma moderna (Storia di Roma dall'antichità a oggi), Roma - Bari 2002, S. 275-305; zum Studium der Chiemseer Bischöfe in Rom vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 316.
[19] Vgl. zu Kraiburg Bauer, Werner M., in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1 (1978) Sp. 769-771.
[20] Vgl. Milway, Michael, Apocalyptic Reform and Forerunners of the End. Berthold Pürstinger, Bishop of Chiemsee († 1543), in: Zeitsprünge 3 (1999) S. 316-327.
[21] Vgl. zu Rehm Friedhuber, Inge, in: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation 3 (1987) S. 138; ferner Frisch, Ernst von, Der "Salzburger Bauernkrieg" des Egidius Rem in seiner ursprünglichen Fassung von 1525, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 82/83 (1942/43) S. 81-91.
[22] Vgl. Becker, Rainald, Bischof Bernhard von Kraiburg (1410/20-1477). Eine bayerische Kirchenkarriere in Chiemsee zwischen Salzburg und Italien, in: Bayernspiegel. Zeitschrift der Bayerischen Einigung und Bayerischen Volksstiftung (November / Dezember 2003 / 6), S. 20-22.

 
Empfohlene Zitierweise:

Becker, Rainald: Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte, in: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten [Ausgabe 04 - Wintersemester 07/08],
www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de/index.php?ausg=4&id=76&subid=70
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