Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Spree, Reinhard

 
 

Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik. Der Krankenhauspatient in Vergangenheit und Gegenwart [*]

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  Die typische Altersverteilung der Krankenhauspatienten und die durchschnittliche Verweildauer sind Konsequenzen der Einweisungsmodalitäten und der Intentionen der Kostenträger. Beachtlich erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß die durchschnittliche Verweildauer von rd. 25 Tagen während der Jahre 1950 bis 1970 schon im 19. Jahrhundert in denjenigen Krankenhäusern deutlich unterboten wurde, die aufgrund ihrer Koppelung mit einer Krankenhausversicherung der örtlichen "labouring poor" (Dienstboten, Handwerksgesellen, Gewerbegehilfen, Tagelöhner) schwerpunktmäßig von der Altersgruppe der 15-30jährigen in Anspruch genommen wurden. Z. B. betrug die mittlere Verweildauer im Münchener Allgemeinen Krankenhaus l. d. Isar während der 1860er und 1870er Jahre 18-20 Tage und im Stuttgarter Katharinenhospital  20 Tage 1834/35 und 13 Tage 1853/54, bei Männern sogar nur 10 Tage.  

  Was hatten die Krankenhäuser in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts ihren Patienten zu bieten? Das medizinische Leistungsangebot war eindeutig sehr beschränkt. Damals gab es z. B. noch keine Antisepsis oder gar Asepsis. Wer operiert wurde, war dem Tode näher als dem Leben. Vielleicht ist er erst durch die Operation zum Tode befördert worden. Was geschah mit den Patienten, die  an Infektionskrankheiten litten? Es gab keine Mittel, um kausal Krankheiten dieser Art zu therapieren. Das Krankenhaus bot vor allem eine gewisse Ruhe, es bot eine relativ gute Verpflegung, es bot ein sauberes Bett, wobei der Sauberkeitsstandard während des ganzen 19. Jahrhunderts ständig anstieg. Und das war für viele Angehörige der "labouring poor" eine ganze Menge. Immer wieder liest man deshalb in Autobiographien und anderen Berichten, daß das eigene Bett und die solide Verpflegung etwas waren, was diesen ärmeren Menschen in ihrem Alltag ansonsten kaum zur Verfügung stand. Unter diesen Bedingungen ist es auch verständlich, daß die Qualität des Pflegepersonals für das Wohlbefinden der Patienten und letztlich auch für ihren Heilungsprozeß wichtiger war als die Verfügbarkeit und Qualität der Ärzte bzw. etwaiger medizinisch-therapeutischer Geräte. Daran änderte ich erst um die Wende zum 20. Jahrhundert etwas, als mit der Einkehr der Asepsis ins Krankenhaus die Chancen gefahrloser Operationen enorm zunahmen, zugleich deren Techniken deutlich verbessert wurden. Die Chirurgie wurde seitdem zum Aushängeschild des Krankenhauses und zog nun auch mehr und mehr bürgerliche Patienten an, da die neuen Standards der Chirurgie nur im Krankenhaus realisiert werden konnten. Hinzu kamen erste Erfolge mit der Serumtherapie, so daß auch die Innere Medizin an Attraktivität gewann. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Krankenhaus somit zu einem medizinischen Leistungsanbieter für tendenziell alle sozialen Schichten. Daß sich die Zusammensetzung der Patientenschaft dennoch nur langsam änderte, hängt mit den Problemen der Finanzierung eines Krankenhausaufenthaltes zusammen. Die durch die GKV versicherten Arbeiter und ihre Familien erscheinen unter diesem Gesichtspunkt bis in die 1920er Jahre geradezu privilegiert. Nicht umsonst forderten bürgerliche Kreise deshalb schon vor dem Ersten Weltkrieg in öffentlichen Debatten das Krankenhaus für den Mittelstand, in dem man einerseits von den Unterschichtangehörigen abgesondert sein konnte, andererseits eine staatliche oder kommunale Subventionierung der Pflegesätze erwartete.  

  Das verlangt einen kurzen Blick auf die Kostenträger. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden mehr als 80% aller Krankenhausaufenthalte von der GKV finanziert, die dafür im Jahre 2001 etwa 31% ihrer Gesamtausgaben aufwenden mußte (rd. 44 Mrd. ?). Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren die Verhältnisse in großen Teilen Deutschlands radikal andere. Das ist bereits gut erkennbar, wenn man von der Ausgabenstruktur der GKV ausgeht. Denn die GKV verwendete kurz nach ihrer Etablierung 1885-1887 nur 10% ihrer Ausgaben für Krankenhausaufenthalte und auch 1913 erst 14%. Nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Krankenhausaufenthalte wurde von der GKV finanziert. Da die Verhältnisse von Bundesstaat zu Bundesstaat, erst recht von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich waren, fallen verallgemeinernde Aussagen schwer. Aber einige Beispiele mögen die Bandbreite verdeutlichen. So wurden im Jahre 1910 im Berliner Virchow-Krankenhaus nur 34% der Pflegetage von Krankenkassen finanziert und 59% von der Armenfürsorge (6% Selbstzahler).   Im Stadtkrankenhaus Posen trugen die Armenverwaltung 58% der Verpflegungstage, die Krankenkassen 32% (10% Selbstzahler). In Breslau gingen 53% zu Lasten der Armenverwaltung und 42% zu Lasten der Krankenkassen. So stellen sich die Relationen in den meisten norddeutschen Städten dar: Die Armenfürsorge finanzierte annähernd oder sogar mehr als die Hälfte aller Verpflegungstage in den Krankenhäusern. Dagegen trugen in süddeutschen Städten fast immer die Krankenkassen über die Hälfte der Kosten der Verpflegungstage: In Pforzheim 74%, in München 76%, in Stuttgart 78% und in Augsburg sogar 83%.  

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