Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Ginster, Regina

 
 

Das so genannte Wirtschaftswunder der 1950er - Westdeutschland springt auf den Zug der Moderne

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  Im folgenden Jahrzehnt wurde die Wirtschaftleistung vor allem von der steigenden Investitionsquote getragen, denn man konnte einen immer größer werdenden Teil des BSP für Modernisierung der Wirtschaft und Infrastruktur verwenden. Dazu kamen die Spareinlagen privater Verbraucher, die sich bis Mitte der 50er versechsfachten, d.h.: Steigerung der Investitionsquote durch Konsumverzicht! Die symbolischen Zahlen ließen nicht lange auf sich warten: Zwischen 1950 und 1955 konnte die Arbeitslosenquote halbiert werden, 1961 betrug die Arbeitslosenquote zum ersten Mal weniger als ein Prozent, womit die Vollbeschäftigung erreicht war. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg dabei seit 1950 um ein Viertel auf 26,3 Millionen an. Noch 1950 lag der Nettoverdienst eines Arbeiters bei etwa 280 DM, 1960 schon bei 680 DM, gleichzeitig sank die Wochenarbeitszeit und die Urlaubsdauer wurde verlängert.
Ein Werbeplakat des Unternehmens Volkswagen von 1955, welches den Verkauf des millionsten Volkswagens pries, sprach aus, was keiner für möglich hielt: "In aller Welt zieht man den Hut". Doch während sich immer mehr Bundesbürger den Konsumwellen hingaben, sich Urlaub, Radios und PKWs, teure Nahrungsmittel und amerikanische Rock'n'Roll-Kultur leisten konnten, tönten die ersten leisen Warnrufe aus dem Hintergrund. Ehrhard selbst mahnte zum "Maßhalten" und Adenauer trat zur Bundestagswahl 1957 für die Bewahrung des Erreichten ein: "Keine Experimente".
 

  Und tatsächlich gibt es über das so genannte Wirtschaftswunder noch ganz andere Zahlen zu vermelden: 75 Prozent des Privatvermögens besaßen nur 17 Prozent der Bevölkerung. 1955 lebten über eine Million Haushalte von weniger als 130 DM im Monat, das bedeutet unterhalb der Armutsgrenze. Dementsprechend betrugen die Sozialausgaben Mitte der 50er mehr als 40 Prozent des Gesamthaushalts und beanspruchten damit den größten Einzelposten. In den Familien stand Arbeit weiterhin an erster Stelle - vor Aus- und Weiterbildung. Eine universitäre Ausbildung der Kinder konnte sich auch in den 50ern nur ein kleiner Teil der Familien leisten. Durch die große Zahl von verwitweten jungen Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten, wurde die Problematik allein erziehender Mütter immer schwerwiegender. Diese Tatsachen stärkten den Anspruch der Gewerkschaften, so dass z.B. 1954 das Kindergeld und 1957 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gesetzlich vorgeschrieben wurden.
Auch die eingangs erwähnten technischen Errungenschaften im Alltag wurden unterschiedlich bewertet. Ein Ausschnitt aus einem Erlebnisbericht über die neuen Selbstbedienungsläden, der in einer schweizerischen Frauenzeitschrift abgedruckt ist, zeigt, wie langsam sich die Möglichkeiten des privaten Lebens an die der Industrie anpassten und auch, wie diese von den Menschen wahrgenommen wurden. Die Preisschilder an den Supermarktregalen werden nicht etwa als Information geschätzt, sondern vor allem da
 

 
[e]s auch für die weniger bemittelte Hausfrau sehr angenehm [ist], daß sie nicht in die Lage kommt, auf den Kauf einer Ware verzichten zu müssen, nachdem sie den Preis durch den Verkäufer erfahren hat.
 
    Jakob Tanner, Grassroots-History und Fast Food, in: Geschichtswerkstatt, Heft 12, 1987, S. 49-54, hier S. 51.  

  Allein die Tatsache, dass dies als Vorteil neben z.B. Effizienz und Produktvielfalt genannt wurde, lässt erahnen, dass ein großer Teil der Gesellschaft weiterhin hart zu kämpfen hatte. Das süße Leben blieb vielen weiterhin verborgen, auch wenn ein immer größerer Teil darum bemüht war die strukturellen Veränderungen zu nutzen und voran zu treiben, um den eigenen Lebensstandard zu verbessern. Diese Haltung unterstützte womöglich auch die Herausbildung typischer 50er - Jahre Klischees, wie Spießertum oder Beamteneifer. Vielen ging es in erster Linie um die Sicherung und den Ausbau des unverzichtbaren Altbewährten. Denn, obwohl die Übergänge gesellschaftlicher Schichten durchlässiger wurden, waren die 50er Jahre, bei aller Modernität, vor allem konservativ. An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass die rein wirtschaftshistorische Retrospektive auf die ersten zwei Jahrzehnte der Bonner Republik der Wahrnehmung und erlebten Wirklichkeit vieler Zeitgenossen nicht gerecht wird. Ein ganz anderes Bild entwirft z.B. die Literatur- oder Kunstgeschichte. Hier wird der hohe Grad an Beschäftigung mit der Vergangenheit, der in Kontrast zu Fortschrittseuphemismus oder Zukunftsoptimismus steht, deutlich.  

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