Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07)
 

Schmid, Matthias

 
 

Feindbild und Geschichtsbild. Zur Darstellung des Sultans Saladin in der lateinischen His-toriographie des Hochmittelalters

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1. Einleitung

Das Auftreten eines Feindes gegenüber einer Gemeinschaft stellt einen Angriff von außen auf die bisherige Ordnung dar, auf das Koordinatensystem dessen, was als gut anerkannt wird, und in das der Feind in der Position des Bösen integriert werden muss. Das Feindbild tritt nun in eine Wechselwirkung mit dem Weltbild und vor allem dem Geschichtsbild, der Vorstellung vom zeitlichen Ablauf der Dinge. Besonders interessant wird die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Feind- und Geschichtsbild, wenn ein Geschichtsbild, welches ausgehend von einem gesetzmäßigen bzw. durch einen personalen Gott gelenkten Ablauf der Geschehnisse teleologisch, d.h. auf das Gute hin zielgerichtet, gedeutet wird, mit der Realitätserfahrung des Siegs des Feindes konfrontiert wird.

Wie wird das Feindbild konstruiert, um es mit dem vorherrschenden Geschichtsbild kompatibel zu machen, und welche Funktionen übernimmt es? Macht ein Feindbild Modifikationen des Geschichtsbildes notwendig?

Diesen Leitfragen lässt sich am besten dort nachgehen, wo Geschichte in eine schriftliche Darstellungsform gelangt: in der Historiographie. Als Untersuchungsgegenstand eignet sich die Rezeption des Sultans Saladin (1138–1193) durch die christliche Welt, weil hier ein religiös geprägtes Geschichtsbild – manifest im Ausruf „Gott will es!“, mit dem die Kreuzzugsbewegung Ende des 11. Jh.s ihren Anfang nahm – durch Erfolge des muslimischen Heeres Saladins, u. a. die Rückeroberung Jerusalems 1187, an einen kritischen Punkt gelangte. Betrachtet werden soll, wie die lateinische Geschichtsschreibung des 12./13. Jh.s das personalisierte Feindbild Saladin sowohl in seinem Machtaufstieg innerhalb der muslimischen Welt als auch in seinen Kämpfen gegen die Christen gestaltete. [1]

Anhand von drei ausgewählten hochmittelalterlichen Quellen, der Chronik des Wilhelm von Tyrus [2], dem Itinerarium peregrinorum et gesta regis Ricardi (kurz: Itinerarium) [3] sowie der Chronik des Salimbene de Adam [4], soll durch Analyse auf sprachlicher gleichwie inhaltlicher Ebene der Zusammenhang zwischen der Darstellung des muslimischen Herrschers Saladin und dem christlich-theologisch geprägten Geschichtsbild des Hochmittelalters skizziert werden. Gewiss können diese drei Primärtexte als Stichprobe nur begrenzt Repräsentativität beanspruchen, dennoch begründet sich die Quellenwahl über die durch sie abgedeckte Breite: sie spannt sich lokal vom Königreich Jerusalem (Wilhelm) über Italien (Salimbene) bis nach England (Itinerarium), zeitlich von der direkten Zeitzeugenschaft (bei Wilhelm, 1130–1186, und möglicherweise auch beim Verfasser des Itinerarium) bis zur Betrachtung der Ereignisse aus der temporal distanzierten Retrospektive (bei Salimbene, 1221–1288/89). Alle drei Autoren besitzen – wie für damalige Geschichtsschreiber üblich – einen religiösen Hintergrund; zumindest für Wilhelm von Tyrus ist ein weltlich-politisches Engagement [5] verbürgt.

Obwohl eine Gliederung nach den jeweiligen Autoren womöglich deutlicher Inkonsistenzen innerhalb einer der Chroniken herausstellen könnte, soll die Struktur dieser Arbeit so aussehen, dass nach einem groben Abriss über das mittelalterliche Geschichtsbild die Untersuchungsergebnisse der Quellentexte nach den verschiedenen Erklärungsmustern im Verhältnis Feindbild-Geschichtsbild geordnet präsentiert werden.

 

 

Zum mittelalterlichen Geschichtsbild

Dem Menschen des 21. Jahrhunderts erschweren vor allem zwei elementare Eigenschaften im Denken des Mittelalters den Zugang zum damaligen Geschichtsbild: Erstens trifft sich die heutige Betonung der einzelnen Person gegenüber dem Ganzen nicht mit dem im Mittelalter nur sehr schwach ausgeprägten Bewusstsein als Individuum. [6] Das Selbstverständnis als Teil eines einheitlichen wie ein Organismus gegliederten corpus Christi hatte für die Sichtweise historischer Abläufe zur Folge, dass diese für alle Christen Universalität beanspruchten und nach Objektivität strebten. [7] Metaphorisch gesprochen: Statt wie in der Moderne verschiedene subjektive Geschichts-Bilder nebeneinander zu stellen, sollte das mittelalterliche Geschichtsbild ein für alle gültiges großes Gemälde sein. Und in diesem Gemälde konnte man auch nur Geschichte darstellen, indem man sich innerhalb des vorgegebenen (theologischen) Rahmens bewegte und sich eines bestimmten Spektrums an Farben bediente. Anders gesagt: Historiographie musste (eben auch beim Herausbilden eines Feindbildes) stets rekurrieren auf ein kollektiv anerkanntes Denksystem und sich eines gemeinsamen Codes bedienen – und dieser Code war die göttliche Offenbarung (Bibel).

Die zweite Divergenz zwischen modernem und mittelalterlichem Geschichtsdenken ist die eben schon angeklungene Dominanz religiöser Elemente. Während es in der neuzeitlichen, zunehmend säkularen Geschichtsauffassung um das Aufzeigen kausaler bzw. hermeneutisch zu verstehender Zusammenhänge geht, liegt im Mittelalter ein Verständnis von Geschichte als “Hilfswissenschaft der Theologie” [8] und als gelenkte Universalgeschichte mit A und Ω in Richtung auf das Reich Gottes hin vor. [9] Geschichte war nur insoweit von Bedeutung, als sie mit der Heilsgeschichte, sprich: der Entwicklung durch göttliche Offenbarung bis hin zur endzeitlichen Erlösung, in Verbindung stand. Für die Geschichtsschreibung bedeutet dieses christliche Geschichtsbild, dass „der Annalist und Chronist […] in der Abfolge der Ereignisse nicht das freie Spiel menschlicher Willensakte und Ziele, sondern Kundgebungen des göttlichen Willens“ [10] sah.

Der Universalitätsanspruch des Christentums und die Deutung der Geschichte als mit dem Geistig-Göttlichen in Verbindung stehend sind die beiden Hauptbestandteile des Geschichtsbilds im lateinischen Westen und Osten. Gleichwohl muss zugegeben werden, dass es sich hierbei um einen Idealtypus handelt, welcher sich zum Spätmittelalter hin zunehmend abschwächte [11], was auch in der späteren Analyse der drei historiographischen Werke des Hochmittelalters bereits in Ansätzen zum Vorschein kommen wird.
 

Fussnote(n):
[1] Bewusst wird nicht das Hauptaugenmerk auf die Präsentation des orientalischen Herr-schers als „edler Heide“ gelegt, wie sie auch in Ansätzen schon in den zeitgenössischen west-lichen Quellen vorhanden war, aber erst in der Literatur ab dem 14. Jh. zur Entfaltung kommt. Vgl. hierzu kurz zusammengefasst Hannes Möhring: Saladin. Der Sultan und seine Zeit: 1138-1193 (= Beck’sche Reihe, Bd. 2386), München 2005, S. 109–123; breiter diskutiert bei Margaret Jubb: The Legend of Saladin in Western Literature and Historiography, Lewinston u.a. 2000, S. 19 ff. und Johannes Hartmann: Die Persönlichkeit des Sultans Saladin im Urteil der abendländischen Quellen (= Historische Studien, Bd. 239), Berlin 1933.
[2] Wilhelm von Tyrus (kurz: WvT): Chronique, ed. R.B.C. Huygens, Bd. 2 (= Corpus Christianorum/Continuatio Mediaeualis, Bd. 63 A), Turnholti 1986. Die Chronik des Wilhelm (1130–1186) (Titel: „Hist. rerum in partibus transmarinis gestarum“) entstand ab 1168 auf Wunsch des Königs Amalrich I. von Jerusalem; abgebrochen wurde die Historia mit dem 23. Buch 1183/84. Der Autor hatte zahlreiche Quellen verarbeitet, als Kanzler des Königreichs Jerusalem besaß er zudem Zugang zum königlichen Archiv. Zuletzt redigierte Wilhelm sein Werk im Jahr 1184. Vgl. Huygens‘ Einleitung in seiner Edition von Wilhelms Chronik, S. 1–96.
[3] Itinerarium peregrinorum et gesta regis Ricardi, ed. William Stubbs (= Chronicles and memorials of the reign of Richard I., Bd. 1; Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, or Chronicles and Memorials of Great Britain and Ireland during the Middle Ages, Bd. 38,1), London 1864. Als Itinerarium peregrinorum werden gemeinhin zwei Quellen bezeichnet: einmal ein älteres, kürzeres Werk, welches die Vorgeschichte und den Verlauf des Dritten Kreuzzuges bis zum Tod des Erzbischofs Balduin von Canterbury Ende 1190 schildert. Die zweite, hier zugrunde liegende Quelle des Itinerarium beschreibt den Dritten Kreuzzug bis zum Ende. Sie übernimmt in ihrem ersten Buch das ursprüngliche Itinerarium mit nur gerin-gen Abänderungen und ergänzt und erweitert es auf Basis der Darstellungen von Ambroise. Als Autor des Werkes wird der Londoner Augustinerchorherr Richard, 1222–1250 fünfter Prior von Holy Trinity, der zwar Templer, aber kein Augenzeuge des Dritten Kreuzzugs war, angenommen. Vgl. Hannes Möhring: Itinerarium peregrinorum, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart 1999, Sp. 775.
[4] Salimbene de Adam: Cronica, ed. Giueseppe Scalia, Bd. 1: a. 1168–1249, Bd. 2: a. 1250–1287 (= Corpus Christianorum/Continuatio Mediaeualis, Bd. 12/12 A), Turnholti 1998. Die Chronik des Salimbene von Parma behandelt die Jahre 1167–1287. Für die Jahre 1167–1210 dienten ihm vorwiegend die Chronik des Sicard von Cremona und die Annales Mediolanenses als Quellen. Für den Zeitraum von mind. 1186–1205 soll ihm eine unbekannte palästinisch-byzantinische Quelle zugrunde gelegen haben, die auf Verherrlichung des Hauses Montferrat abzielt. Erst ab September 1284 hat die Chronik tagebuchartigen Charakter. Vgl. Alfred Do-ve: Die Doppelchronik von Reggio und die Quellen Salimbenes, Leipzig 1873, bes. S. 3–8, 110–117.
[5] Wilhelm war von 1174 bis vermutlich 1183 Kanzler des Königreichs Jerusalem. Vgl. Ru-dolf Hiestand: Zum Leben und Laufbahn Wilhelms von Tyrus, Deutsches Archiv 34 (1978), S. 345-381, S. 356 f.
[6] Vgl. Walter Ullmann: Individuum und Gesellschaft im Mittelalter (= Kleine Vanden-hoeck-Reihe, Bd. 1370), Göttingen 1974, S. 35.
[7] Vgl. ebenda, S. 17, 36.
[8] Heinrich von Eicken: Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung, 3. Aufl., Manul-Neudruck, Stuttgart u.a. 1917, S. 641.
[9] Vgl. Christian Simon: Historiographie. Eine Einführung, Stuttgart 1996, S. 54 f.
[10] Ullmann, Individuum, S. 36.
[11] Vgl. Hans Heinrich Schaeder: Der Mensch in Orient und Okzident. Grundzüge einer eu-rasiatischen Geschichte (= Sammlung Piper, o. Bd.), hrsg. v. Grete Schaeder unter Mitarbeit v. Kurt Heinrich Hansen, eingel. v. Ernst Schulin, München 1960, S. 235 f.; Johannes Spörl: Das mittelalterliche Geschichtsdenken als Forschungsprogramm, in: Historisches Jahrbuch 13 (1933), S. 281–303, S. 301.

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