Das Auftreten eines
Feindes gegenüber einer Gemeinschaft stellt einen Angriff von außen auf die
bisherige Ordnung dar, auf das Koordinatensystem dessen, was als gut anerkannt
wird, und in das der Feind in der Position des Bösen integriert werden muss.
Das Feindbild tritt nun in eine Wechselwirkung mit dem Weltbild und vor allem
dem Geschichtsbild, der Vorstellung vom zeitlichen Ablauf der Dinge. Besonders
interessant wird die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Feind- und
Geschichtsbild, wenn ein Geschichtsbild, welches ausgehend von einem gesetzmäßigen
bzw. durch einen personalen Gott gelenkten Ablauf der Geschehnisse teleologisch,
d.h. auf das Gute hin zielgerichtet, gedeutet wird, mit der Realitätserfahrung
des Siegs des Feindes konfrontiert wird.
Wie wird das
Feindbild konstruiert, um es mit dem vorherrschenden Geschichtsbild kompatibel
zu machen, und welche Funktionen übernimmt es? Macht ein Feindbild
Modifikationen des Geschichtsbildes notwendig?
Diesen
Leitfragen lässt sich am besten dort nachgehen, wo Geschichte in eine
schriftliche Darstellungsform gelangt: in der Historiographie. Als
Untersuchungsgegenstand eignet sich die Rezeption des Sultans Saladin (1138–1193)
durch die christliche Welt, weil hier ein religiös geprägtes Geschichtsbild –
manifest im Ausruf „Gott will es!“, mit dem die Kreuzzugsbewegung Ende des 11.
Jh.s ihren Anfang nahm – durch Erfolge des muslimischen Heeres Saladins, u. a.
die Rückeroberung Jerusalems 1187, an einen kritischen Punkt gelangte. Betrachtet
werden soll, wie die lateinische Geschichtsschreibung des 12./13. Jh.s das
personalisierte Feindbild Saladin sowohl in seinem Machtaufstieg innerhalb der
muslimischen Welt als auch in seinen Kämpfen gegen die Christen gestaltete. [1]
Anhand von drei
ausgewählten hochmittelalterlichen Quellen, der Chronik des Wilhelm von Tyrus
[2], dem Itinerarium peregrinorum et gesta regis Ricardi (kurz: Itinerarium) [3]
sowie der Chronik des Salimbene de Adam [4], soll durch Analyse auf
sprachlicher gleichwie inhaltlicher Ebene der Zusammenhang zwischen der
Darstellung des muslimischen Herrschers Saladin und dem christlich-theologisch
geprägten Geschichtsbild des Hochmittelalters skizziert werden. Gewiss können
diese drei Primärtexte als Stichprobe nur begrenzt
Repräsentativität beanspruchen, dennoch begründet sich die Quellenwahl über die
durch sie abgedeckte Breite: sie spannt
sich lokal vom Königreich Jerusalem (Wilhelm) über Italien (Salimbene) bis nach
England (Itinerarium), zeitlich von der direkten Zeitzeugenschaft (bei Wilhelm,
1130–1186, und möglicherweise auch beim Verfasser des Itinerarium) bis zur
Betrachtung der Ereignisse aus der temporal distanzierten Retrospektive (bei
Salimbene, 1221–1288/89). Alle drei Autoren besitzen – wie für damalige
Geschichtsschreiber üblich – einen religiösen Hintergrund; zumindest für
Wilhelm von Tyrus ist ein weltlich-politisches Engagement [5] verbürgt.
Obwohl eine Gliederung
nach den jeweiligen Autoren womöglich deutlicher Inkonsistenzen innerhalb einer
der Chroniken herausstellen könnte, soll die Struktur dieser Arbeit so aussehen,
dass nach einem groben Abriss über das mittelalterliche Geschichtsbild die Untersuchungsergebnisse
der Quellentexte nach den verschiedenen Erklärungsmustern im Verhältnis
Feindbild-Geschichtsbild geordnet präsentiert werden.
Zum mittelalterlichen Geschichtsbild
Dem Menschen des
21. Jahrhunderts erschweren vor allem zwei elementare Eigenschaften im Denken
des Mittelalters den Zugang zum damaligen Geschichtsbild: Erstens trifft sich
die heutige Betonung der einzelnen Person gegenüber dem Ganzen nicht mit dem im
Mittelalter nur sehr schwach ausgeprägten Bewusstsein als Individuum. [6] Das
Selbstverständnis als Teil eines einheitlichen wie ein Organismus gegliederten corpus Christi hatte für die Sichtweise
historischer Abläufe zur Folge, dass diese für alle Christen Universalität
beanspruchten und nach Objektivität strebten. [7] Metaphorisch gesprochen:
Statt wie in der Moderne verschiedene subjektive Geschichts-Bilder nebeneinander
zu stellen, sollte das mittelalterliche Geschichtsbild ein für alle gültiges
großes Gemälde sein. Und in diesem Gemälde konnte man auch nur Geschichte
darstellen, indem man sich innerhalb des vorgegebenen (theologischen) Rahmens
bewegte und sich eines bestimmten Spektrums an Farben bediente. Anders gesagt:
Historiographie musste (eben auch beim Herausbilden eines Feindbildes) stets
rekurrieren auf ein kollektiv anerkanntes Denksystem und sich eines gemeinsamen
Codes bedienen – und dieser Code war die göttliche Offenbarung (Bibel).
Die zweite
Divergenz zwischen modernem und mittelalterlichem Geschichtsdenken ist die eben
schon angeklungene Dominanz religiöser Elemente. Während es in der
neuzeitlichen, zunehmend säkularen Geschichtsauffassung um das Aufzeigen
kausaler bzw. hermeneutisch zu verstehender Zusammenhänge geht, liegt im
Mittelalter ein Verständnis von Geschichte als “Hilfswissenschaft der
Theologie” [8] und als gelenkte Universalgeschichte mit A und Ω in Richtung auf
das Reich Gottes hin vor. [9] Geschichte war nur insoweit von Bedeutung, als
sie mit der Heilsgeschichte, sprich: der Entwicklung durch göttliche
Offenbarung bis hin zur endzeitlichen Erlösung, in Verbindung stand. Für die
Geschichtsschreibung bedeutet dieses christliche Geschichtsbild, dass „der
Annalist und Chronist […] in der Abfolge der Ereignisse nicht das freie Spiel
menschlicher Willensakte und Ziele, sondern Kundgebungen des göttlichen Willens“
[10] sah.
Der Universalitätsanspruch des Christentums und die Deutung der
Geschichte als mit dem Geistig-Göttlichen in Verbindung stehend sind die beiden
Hauptbestandteile des Geschichtsbilds im lateinischen Westen und Osten.
Gleichwohl muss zugegeben werden, dass es sich hierbei um einen Idealtypus
handelt, welcher sich zum Spätmittelalter hin zunehmend abschwächte [11], was
auch in der späteren Analyse der drei historiographischen Werke des
Hochmittelalters bereits in Ansätzen zum Vorschein kommen wird.