Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 03 - Wintersemester 06/07)
 

Brendecke, Arndt

 
 

„Diese Teufel, meine Papiere ...“ Philipp II. von Spanien und das Anwachsen administrativer Schriftlichkeit [*]

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  Verdauungsqualitäten waren auch hinsichtlich der Information aus Amerika gefordert: Die Sekretäre des Indienrats hatten „lo importante y substancial“ aus den eingehenden Schriften in Berichten zusammenzufassen, um daraus wiederum ein noch knapperes Registerbuch zu erstellen. Für die Geschäfte (negocios) brauche man, so das Argument, Kürze (brevedad). [17] Um aber vernünftige Entscheidungen treffen zu können, muß man zunächst über vollständige Kenntnis (entera noticia) verfügen – ein Topos, der bereits unter Karl V. auftauchte und unter Philipp II., insbesondere durch die Reformen Juan de Ovandos, in ein systematisches Programm des Informiertseins überführt wurde. [18] Dieser Gedanke gipfelte in der Versendung von Fragebögen an amerikanische Amtsträger, um einen im Indienrat angesiedelten obersten Chronisten und Kosmographen systematisch mit Informationen zu versehen. Er setzt sich im 17. Jahrhundert in dem Projekt eines niederen Beamten des Indienrats fort: Juan Díez de la Calle nahm sich unaufgefordert vor, das gesamte Herrschaftswissen über die amerikanischen Territorien in einem einzigen Buch zusammenzufassen und dieses dem König zu widmen. Er orientierte sich dabei an dem später auch Leibniz faszinierenden und bei Sueton und Tacitus genannten Breviarium totius imperii, in dem Kaiser Augustus alle herrschaftsrelevanten Daten seines Reiches verzeichnet haben soll, sowie an der Notitia dignitatum, einer spätantiken Ämterliste, die man als eine Art Blaupause des römischen Staatswesens mißverstand und seit der Mitte des 16. Jahrhunderts kommentarreich edierte. [19] Hintergrund solcher Projekte war das Ideal eines vollständigen Überblickes, einer Art Herrschaft durch die synoptische Verfügbarmachung von Empirie. Entsprechende Praktiken finden sich interessanterweise sowohl im Bereich der Lehre, der eigentlichen Wissenschaften wie auch dem der politisch-administrativen Prozesse. Im Unterrichtsgebrauch läßt sich das Aufhängen von Tafeln an den Wänden der Lehrräume schon im 15. Jahrhundert nachweisen, für die Wissenschaft kann man auf Bemerkungen von Erasmus v. Rotterdam, Francis Bacon, Gottfried Wilhelm Leibniz oder auch in d’Alemberts Discours préliminaire verweisen, der die enzyklopädische Verdichtung des Wissens mit der Schaffung eines erhöhten Betrachtungsstandpunkts legitimierte: „à placer, pour ainsi dire, le philosophe au-dessus de ce vaste labyrinthe dans un point de vue fort élevé d’où il puisse apercevoir à la fois les sciences et les arts principaux; voir d’un coup d’œil les objets de ses spéculations, […].“ [20] Für die Administration lassen sich wiederum z.B. Vorschriften aufzeigen, die 1567 die Anbringung von Übersichtstafeln über laufende Gerichtsverfahren in den Amtsräumen vorsahen, aber auch etwa auf den Erfahrungsbericht eines Indienratsbeamten, der 1679 nach über 30 Jahren Dienst ein handschriftliches Register der consultas anfertigte und dazu bemerkte, man brauche zur Orientierung in der Unmenge der Papiere eine große Registertafel, auf der alles wie auf einer knappen Landkarte vor Augen steht  – „como en un breve Mapa delante de los ojos“. [21] Ein ähnliches Wandregister, alle Amtsträger des Indienrates auflistend, hatte sein vor allem durch eine Gesetzeskodifikation bekannt gewordener Kollege Antonio de León Pinelo bereits drucken lassen. Es bestand aus vier Bögen mit unbedruckten Rückseiten und war explizit zum Aufhängen an der Wand der Amtsräume vorgesehen. [22] Entscheidender als die Metaphorik der Staatsmaschinerie, in der die königlichen Räte als ‚Sehnerven’ (nervios ópticos) beschrieben werden, durch die der König wahrnimmt, erscheinen denn auch diese medialen Formate, auf deren Basis synoptische Wahrnehmungen überhaupt erst ermöglicht wurden. [23]  

Fussnote(n):
[17] Recopilación [ 1681 ] 1973, lib. II, título VI, ley 44, 45.
[18] Archivo General de Indias, Sevilla, Indiferente: 421, lib. 13, fol. 304v.
[19] Biblioteca Nacional de España, Madrid, Ms. 3023, 4v; Sueton: Vita caesarum, 101, 4 ; Tacitus: Annales I, 11.
[20] Zur Lehre vgl. Esmeijer 1978, 99; Vgl. zu Erasmus etwa Zedelmaier 1992, 175; zu Bacon Steiner 2006; zu Leibniz Neumeister 1990, 51; zum Discours préliminaire der Encyclopédie vgl. D’Alembert [ 1751 ] 1955, 84.
[21] Recopilación [ 1681 ] 1973, lib. II, título XV, ley 75; Archivo Histórico Nacional, Madrid, Codices: lib. 752, 1r.
[22] León Pinelo 1892, VII.
[23] Saavedra Fajardo 1678, Empresa 57, 224. Zur Wahrnehmung des Prinzen auch Real Academia de la Historia, Madrid, Salazar K-19, fol. 63r.

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