A. Einleitung 1956 folgte nach der Verstaatlichung des Suezkanals durch Ägypten ein gemeinsamer Angriff Großbritanniens, Frankreichs und Israels auf Ägypten. Betrachtet man die Beteiligten stellt sich die Frage nach der Einordnung der Krise. Handelte es sich bei der Suezkrise um einen Entkolonialisierungs-, einen Nahost oder einen Ostwestkonflikt? Ägypten befand sich als ehemaliges britisches Protektorat im Krieg mit den Kolonialmächten England und Frankreich. Es kämpfte als arabischer Staat gegen Israel. Weiterhin führten die beiden Westalliierten Krieg gegen ein vom Ostblock mit Waffen unterstütztes Land. Jedoch fehlt eine US-amerikanische Beteiligung, sodass die Annahme die Suezkrise von 1956 sei ein Ostwestkonflikt, zweifelhaft erscheint. Die Einordnung der Krise erfolgt durch Abgleichen mit den Ausprägungen der genannten drei Konflikte. Es soll hier jedoch nicht der militärische und diplomatische Ablauf der Suezkrise im Vordergrund der Betrachtung stehen, obgleich er hier auch gestreift wird.
B. Hauptteil Es werden im Folgenden die einzelnen Konfliktfelder aufgezeigt und überprüft, ob man die Suezkrise als einen solchen Konflikt bezeichnen kann.
I. Entkolonialisierung 1. Merkmale eines Entkolonialisierungskonfliktes Generell versteht man unter Entkolonialisierung einen Souveränitätswechsel. Während des Souveränitätswechsels kennt ein Staat die staatliche Unabhängigkeit eines Volkes seines vormaligen Herrschaftsbereichs und das nationale Selbstbestimmungsrecht dieses Volkes an[1]. Die Hauptphase der Entkolonialisierung vollzog sich nach Ende des ersten Weltkrieges und stellt das Ende der europäischen Kolonialherrschaft dar[2]. Ein Entkolonialisierungskonflikt besteht demnach, wenn es zwischen einer Kolonialmacht und einer Unabhängigkeitsbewegung oder eines abhängigen Staates zur Auseinandersetzung kommt. Die Kolonialmacht hat das Ziel ihren Einfluss zu bewahren, während die Unabhängigkeitsbewegung oder der fremdbestimmte Staat versucht die Abhängigkeit von der Kolonialmacht abzuschütteln.
2. Die Suezkrise als Entkolonialisierungkonflikt? Betrachtet man die Beteiligten liegt der Schluss nahe, die Suezkrise sei ein Entkolonialisierungskonflikt. So wird in Ägypten und in der arabischen Welt die Verstaatlichung des Suezkanals durch Nasser als Symbol der Unabhängigkeit von Großbritannien gesehen. Aus ägyptischer Sicht wurde damit endgültig der britische Einfluss vom seit 1936 formal unabhängigen Ägypten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht abgeschüttelt[3].Dies erfolgte 1952 durch die Absetzung des unter englischem Einflusses stehenden Königs Faruk und 1954 durch die Durchsetzung des Abzugs der britischen Truppen aus der Kanalzone[4]. Die Verstaatlichung des Kanals sollte die von Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Weltbank wegen der Waffenkäufe im Ostblock verweigerte Finanzierung des Assuan-Staudamm-Projekts ermöglichen, welches Ägyptens Landwirtschaft und Energievorsorgung sichern sollte[5]. Ägypten sah sich als Vorkämpfer arabischer Selbstbestimmung gegen eine koloniale Macht[6]. Für Großbritannien hingegen waren der Mittlere Osten und Ägypten Einflusssphäre. Es war bestrebt, sich in diesem Weltteil weiterhin als Großmacht zu zeigen. Kernstück war hier die wirtschaftliche und militärische Kontrolle der arabischen Ölfelder. Diese sollten Großbritanniens Großmachtstellung sichern[7]. Mit der Türkei, Pakistan, dem Iran und dem Irak hatte Britannien den Bagdadpakt geschlossen[8], der die Ölfelder vor sowjetischem Einfluss abschirmen sollte[9]. Großbritannien hatte ein enormes wirtschaftliches Interesse an der Kontrolle des Suezkanals, sicherte er doch den Zugang zum Öl[10]. Die Verstaatlichung des Suezkanals wertete die britische Regierung unter Eden als Angriff auf „the jugular vein of the British Empire“[11]. Zudem weckte das nationalistische Auftreten Nassers bei Eden die Erinnerung an München 1938, was den britischen Premierminister zu einem entschiedenen Vorgehen gegen Ägypten bewog[12]. Weiterhin war der Panarabismus Nassers, der sich gegen Britanniens Vorherrschaft im Mittleren Osten und den Bagdadpakt wandte, der britischen Regierung schon lange ein Dorn in Auge[13]. Die ägyptischen Waffenkäufe in der Tschechoslowakei weckten die Furcht eines sowjetischen Einflusses[14]. Die Briten sahen die Intervention wegen der Verstaatlichung des Suezkanals somit als Gelegenheit, sich des unliebsamen Nassers zu entledigen. Was bewegte aber Frankreich zur Intervention? Ägypten gehörte nicht zum französischen Einflussgebiet; Frankreich jedoch war an der Suezgesellschaft beteiligt[15]. Der Panarabismus bedrohte gleichsam die französische Herrschaft in Algerien[16], da Ägypten die algerische Unabhängigkeitsbewegung materiell und ideologisch unterstützte. Die algerische Frage war der Hauptgrund für das französische Eingreifen[17]. So beschloss die französische Regierung die Verstaatlichung des Suezkanals exemplarisch zu bestrafen[18]. Übereinstimmend mit Großbritannien wollte Frankreich eine aktive Rolle des Westens im Mittleren Osten, um sowjetischem Einfluss entgegenzuwirken. Ferner erstrebte Frankreich selbst zu einer entscheidenden Macht im Mittleren Osten zu werden[19]. Während der Suezkrise prallten zwei Welten aufeinander: die imperiale Weltordnung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und die Welt der aufstrebenden ehemaligen Kolonien der Nachkriegszeit[20]. Frankreich und Großbritannien versuchten also ihren Einfluss über Gebiete, wirtschaftliche Ressourcen und strategische Schlüsselstellungen zu wahren und wurden dabei durch das panarabische Bestreben nach Selbstbestimmung in ihrer Position herausgefordert. Die Suezkrise ist folglich als Entkolonialisierungskonflikt zu sehen.