Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
 

Dregger, Sebastian

 
 

Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz – und das Beispiel Otto Küsels.

Artikel empfehlen  

  (Seite 1 von 2) nächste Seite

  I. Einleitung

Betrachtet man die Organisationsstruktur des Vernichtungslagers Auschwitz, so ergibt sich ein erklärungsbedürftiger Befund: Der großen Zahl der Häftlinge steht - bei aller numerischen Vergrößerung der Gesamtstruktur des Lagers im Laufe der Zeit - eine relativ kleine Anzahl von SS-Männern gegenüber. So zählte das Lager im Juni 1942, kurz nach Beginn der jüdischen Massentransporte, 23 070 [1]  registrierte Häftlinge. Die SS zählte zu diesem Zeitpunkt rund 2 000 Mann. [2]  Im August 1944 standen 104 878 registrierte Häftlinge einer Stärke von 3 342 SS-Männern gegenüber.[3] Es stellt sich also die Frage, wie es der zahlenmäßig recht kleinen SS gelang, ein reibungsloses Funktionieren des Vernichtungslagers zu gewährleisten und so in den Jahren 1940 bis 1945 rund 1, 5 bis 2 Millionen Menschen[4] in Auschwitz zu ermorden. Dabei fiel sicher ein Großteil der Häftlinge dem ständigen Terror der SS zum Opfer; dann auch der schweren Arbeit im Lager, der unzureichenden Verpflegung und schließlich den katastrophalen hygienischen und sanitären Verhältnissen im Lager, mit der Folge, dass innerhalb der ersten zwei Monate 80% der Neuankömmlinge im Lager verstarben.[5] Doch um letztlich dieses ungeheuerliche Ausmaß an Toten erreichen zu können bei dieser konstant großen relativen zahlenmäßigen Überlegenheit der Häftlinge gegenüber der SS, drängt sich der Schluss auf, dass ein Teil der Häftlinge aktiv in die Vernichtungsmaschinerie des Lagers involviert gewesen sein musste. Was dies anbelangt, so spielten die sogenannten Funktionshäftlinge als oftmals verlängerter Arm der SS eine entscheidende Rolle, ohne die die Systematik der Vernichtung in Auschwitz nicht vollständig verstanden werden kann.
Im folgenden Essay soll deshalb in einem ersten Teil allgemein die Rolle der Funktionshäftlinge beschrieben werden: Wer konnte Funktionshäftling werden? Welche Privilegien gingen mit dieser Stellung einher? Wie gestaltete sich das ambivalente Verhältnis der Funktionshäftlinge zur SS sowie zu den übrigen Häftlingen? - Das sollen die Leitpunkte dieser Darstellung sein. In einem zweiten Teil soll dann auf die Biographie des Funktionshäftlings Otto Küsel eingegangen werden - als außergewöhnliches Beispiel für jemanden, der seinen Spielraum geschickt nutzte: nicht um zum Werkzeug der SS, sondern um zur schützenden Hand für die Häftlinge zu werden, die ihm im Arbeitsdienst unterstellt waren und dem es so gelang, die Absicht der SS, die Häftlinge gegeneinander auszuspielen, zu durchkreuzen.

II. Hauptteil
A. Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz

Nur eine Minderheit der Häftlinge hatte die Chance, in der Lagerhierarchie aufzusteigen und Funktionshäftling zu werden. Dazu gehörten in erster Linie reichsdeutsche Häftlinge, vor allem, wenn diese eine hohe Nummer besaßen, das heißt schon lange Häftling in einem KZ waren und somit die alltäglichen Abläufe sowie die Anforderungen der SS an die Häftlinge gut kannten.[6] Es war aber auch möglich, je nach Bedarf an Kapos, wie die Funktionshäftlinge in der Lagersprache hießen, dass Mitglieder anderer Nationalitäten, auch Juden, zum Funktionshäftling werden konnten. Die SS bevorzugte für diese Position  aber reichsdeutsche Häftlinge, gerade wenn es darum ging, bei der Errichtung eines neuen Lagers mitzuwirken. So bestanden auch die ersten 30 Häftlinge im neu errichteten KZ Auschwitz aus sogenannten reichsdeutschen Berufsverbrechern, die aus dem KZ Sachsenhausen, wo sie ihre Strafen für ihre Delikte absaßen, nach Auschwitz verlegt wurden, um dort unter Anleitung der SS das neue Lager aufzubauen. Die bevorzugte Wahl reichsdeutscher Häftlinge hatte zum einen rassistische Gründe; denn nach dem Weltbild der SS besaßen deutsche Häftlinge im Vergleich zu den übrigen Häftlingen den höchsten "rassischen" Wert. Daneben war es unbedingt erforderlich, dass ein Funktionshäftling mindestens insoweit der deutschen Sprache mächtig war, dass er die Befehle der SS richtig verstand und der SS zudem Meldungen in deutscher Sprache übermitteln konnte. Auch musste der jeweilige Häftling ein Mindestmaß an Intelligenz besitzen, um die organisatorischen Aufgaben, die die SS an ihn stellte, angemessen erledigen zu können. Konnte also ein Häftling gut deutsch und war er auch noch intelligent, so musste er nicht unbedingt ein Reichsdeutscher gewesen sein, um Kapo zu werden.

Ein Funktionshäftling besaß im Vergleich zu den übrigen Häftlingen eine Reihe von Privilegien, wenn er seine Arbeit in den Augen der SS gut machte: er musste in der Regel keine schweren körperlichen Arbeiten verrichten; er erhielt mehr an Nahrung; er konnte in einer besser ausgestatteten Baracke schlafen; er genoss den Respekt der übrigen Häftlinge und er war zumindest vorübergehend dem Terror der SS entzogen.[7] Mit diesen Privilegien ausgestattet hatte er im Regelfalle eine viel größere Chance, die Haft im Vernichtungslager zu überleben, weshalb die Stellung eines Funktionshäftlings recht attraktiv war. War der Häftling ein politisch Gefangener und hatte dieser zudem die Absicht in seiner Haft konspirativ tätig zu sein, etwa indem er Informationen über die Funktionsweise, Vorgänge und ständige Verbrechen im Lager sammelte und versuchte, diese aus dem Lager schmuggeln zu lassen, so gelang dies am ehesten, wenn er die Privilegien eines Funktionshäftlings genoss.

Allerdings musste ein Funktionshäftling einen hohen Preis für seine Privilegien zahlen: Dieser bestand zunächst darin, die Vorgaben der SS erfüllen, also die jeweiligen Arbeitsdienste im Lager zu koordinieren und die Arbeiten der übrigen Häftlinge zu überwachen. Doch indem er sich so der SS in den Dienst stellte, wurde der Funktionshäftling auch Teil des perfiden Vernichtungssystems der SS. Denn indem die SS Arbeitsaufträge an Funktionshäftlinge delegierte, verfolgte sie einerseits das Ziel, die eigenen Kosten für die Bewachung der Gefangenen gering zu halten; zum anderen aber sollten die privilegierten Häftlinge durch den Genuss ihrer Privilegien dazu gebracht werden, eventuelle Skrupel bei der Umsetzung von Anweisungen der SS gegenüber den Mithäftlingen zu überwinden, was dazu führte, dass es der SS gelang - unter Zuhilfenahme der Funktionshäftlinge -, den Terror bis in die letzen Winkel des Lagers zu tragen. Zudem sollte durch eine bewusste Hierarchisierung der Häftlinge mögliche Solidarität unter den Gefangenen oder gar gemeinsame Aktionen der Gefangen gegen die SS erheblich erschwert werden. Bedenkt man diese besondere Rolle der Funktionshäftlinge, so wird erst verständlich, wie es für die SS möglich war, mit einer verhältnismäßig geringen Anzahl von eigenem Personal, das Vernichtungslager Auschwitz zu betreiben.[8]
Neben dieser Verstrickung in den Vernichtungsapparat der SS gab es noch einen weiten Preis, den die Funktionshäftlinge für ihren Aufstieg im Lagersystem zahlen mussten: die völlige persönliche Abhängigkeit von der SS; denn diese erwartete, dass ein Kapo sich voll und ganz in ihren Dienst stellte. Tat er dies nicht, indem etwa die Arbeitseinheiten, die dem Kapo unterstellt waren, aus Sicht der SS nicht schnell oder nicht gut genug arbeiteten, dann fiel dies auf den Funktionshäftling selber zurück, der dann mit dem Entzug seiner Privilegien und sonstigen Strafen, etwa Schlägen, zu rechnen hatte. Im schlimmsten Falle verlor er seine Stellung als Funktionshäftling, was einem Fall ins Bodenlose in der Lagerstruktur gleichkam.
 

Fussnote(n):
[1] Tadeusz Iwaszko, Deportation to the camp and registration of prisoners, in: Piper/ Swiebocka (Hrsg.), Auschwitz - Nazi Death Camp, 3.Auflage, Auschwitz, 2005, S. 68.
[2] Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, 1. Auflage, Wien, 1972, S.313.
[3] Nicht erfasst sind die Häftlinge, die nicht registriert wurden. Auch nicht erfasst ist die Fluktuation des SS-Personals, weshalb die angegeben Zahlen eine gewisse Ungenauigkeit beinhalten.
[4] Zur Zahl der ermordeten Opfer gibt es verschiedene Schätzungen, so dass hier nur ein Näherungswert gegeben werden kann. Vgl.: Francizek Piper, The number of victims at KL Auschwitz, in: Piper/ Swiebocka, aaO, S. 183 -194.
[5] Tadeusz Iwaszko, in: Piper/ Swiebocka, aaO, S. 68.
[6] Hermann Langbein, ...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank - Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, 1.Aufl., 1980, S.31-33.
[7] Karin Orth, Gab es eine Lagergesellschaft? - "Kriminelle" und politische Häftlinge im Konzentrationslager, in: Frei/Steinbücher/Wagner (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit - Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, Bd.4, 1. Aufl., 2000, S.108-109.
[8] Eugeniusz Brzezicki, Die Funktionshäftlinge in den Nazi-Konzentrationslagern. Eine Diskussion, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Die Auschwitz-Hefte, Bd.1, 2.Aufl., 1995, S.232.

    nächste Seite


[1]  [2]