Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
 

Becker, Rainald

 
 

Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte

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  In ein Gartenparterre eingebettet, von Wirtschaftsgebäuden umgeben, ästhetisch wirkungsvoll auf einer Anhöhe über dem See positioniert, so präsentiert sich dagegen der Kirchenkomplex auf einer jüngeren Vedute des Münchner Kupferstechers Michael Wening. Die 1722 entstandene Darstellung zeigt das Domstift aus der Vogelperspektive im Zustand seines barocken Ausbaus. Im Hintergrund sind die Ketten der Chiemgauer Berge zu erkennen. Markant stellt Wening die für die bischofskirchliche Qualität von Chiemsee konstitutiven Elemente heraus: In der linken oberen Ecke sind unter einer Mitra, zwei Bischofskrümmen und einem Kardinalshut die Wappen von Domstift und Kloster zu sehen; in der rechten Ecke des Stichs ist die massive frühbarocke Fassade des im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts neu errichteten Doms abgebildet. Deutlich tritt für den zeitgenössischen Betrachter die Funktion Chiemsees als kirchlicher Zentralort in siedlungsloser Natur hervor: Die in den Mittelpunkt gerückten Türme der Kathedrale verweisen auf eine geistliche civitas im Miniaturformat, die sich über das Inselrund, den Seerand hinaus bis an den Alpenhorizont erstreckt.

Nicht weniger bemerkenswert als die Resonanz der Künstler ist das Echo der Gelehrten auf das Phänomen im Chiemsee, so vor allem der Historiographen. Zu denken ist nicht so sehr an die humanistische und barocke Landesgeschichtsschreibung. Daß Herrenchiemsee bei Johannes Aventinus und Wiguläus Hund, den beiden wichtigsten bayerischen Exponenten der historischen Gelehrsamkeit im 16. Jahrhundert, auf ein lebhaftes Interesse stieß, ist nicht verwunderlich. Schließlich lag das Stift im unmittelbaren Einzugsbereich der bayerischen Landesherrschaft und damit im Untersuchungsraum der Landeshistorie. Überraschend ist vielmehr die überregionale, ja europäische Beachtung, die das kleine Bistum während seines über 600-jährigen Bestehens zwischen 1215 und 1817 auf sich gezogen hat. Auch hier sollen nur wenige Beispiele das vielschichtige Gesamtbild ausloten: Enge Beziehungen zu einzelnen Vertretern des Chiemseer Episkopats unterhielt etwa der aus der Toskana stammende, später zum Papst aufgestiegene italienische Humanist Enea Silvio Piccolomini. So zählte der nachmalige Pius II. den Chiemseer Bischof Silvester Pflieger zu seinem deutschen Freundeskreis [2]. Wohl aus dieser Verbundenheit heraus erwähnte er das Inselbistum in seiner "Germania", einem Brieftraktat über die Geschichte Deutschlands. Dabei stellt er die Kleindiözese in eine Reihe mit so bedeutenden reichskirchlichen Zentren wie Köln, Mainz, Trier und Salzburg. Zusammen mit den Vorständen dieser bekannten Reichsbistümer erscheinen ihm die Chiemseer Ordinarien als "reiche und mächtige Bischöfe, im Vergleich mit denen unsere italienischen eher Plebanen als Bischöfe zu nennen sind" [3].

Dieses schwungvolle Lob aus päpstlichem Humanistenmund fand einen Widerhall selbst in den nüchternen Deduktionen der Rechtsgelehrsamkeit, beispielsweise in jener Reichspublizistik, wie sie im 18. Jahrhundert etwa der Göttinger Jurist Johann Jakob Schmauß betrieb. In dessen "Allerneuestem Staat des Erzbisthums Salzburg", einer historisch-statistischen und juristischen Beschreibung des Erzstifts Salzburg und seiner vier Eigenbistümer Chiemsee, Gurk, Lavant und Seckau, widmet sich der protestantische Gelehrte ausführlich der Inseldiözese. Schmauß sieht in dem Kleinbistum einen Eckpfeiler der Salzburger Kirche: Dessen Existenz trage wesentlich zum politischen und religiösen "Splendeur" der Salzburger Erzbischöfe bei. Salzburgs hervorgehobener Rang in der Germania Sacra, ja darüber hinaus in der ganzen Papstkirche gründe sich auf die vier genannten Mediatbistümer, zu denen eben auch die Ecclesia Chimensis gehöre [4].

Das Große im Kleinen, das Besondere im vermeintlich Randständigen - in diese Formeln läßt sich das Ergebnis dieser einführenden Betrachtung zur Wahrnehmungsgeschichte von Chiemsee zusammenziehen. Eine gewisse Prominenz konnte das Bistum beanspruchen, immerhin so herausragend, daß es zu allen Zeiten die Phantasie der Künstler und die Neugier der Gelehrten zu erregen vermochte. Für den Historiker, der sich nicht allein mit dem Konstatieren von Phänomenen begnügen darf, sondern auch die Ursachen für bestimmte Entwicklungen und Bewertungen erforschen soll, fängt damit indes erst das Problem an. Noch pointierter formuliert: Was macht genau die spezifische historische Bedeutung von Chiemsee, seine von den Zeitgenossen immer wieder betonte Besonderheit aus? Um welches politische und juristische Konstrukt handelte es sich bei dem sogenannten Inselbistum? Und in welchen größeren reichskirchengeschichtlichen Zusammenhänge stand die Chiemseer Kirche?

Es ist klar, daß die Fülle des hier zur Diskussion Stehenden nur in großen historischen Längsschnitten bewältigt werden kann: Im generalisierenden Zugriff ist dabei zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Bistums, seine innere und äußere Verfassung, seine Funktion einzugehen. In einem letzten Schritt sind dann mit den Bischöfen die Hauptakteure der Chiemseer Bistumsgeschichte zu betrachten. Dabei soll der Episkopat aus übergreifender gruppenbiographischer Perspektive in den Blick genommen werden. Das sozialgeschichtliche Profil der Chiemseer Prälaten muß im Vordergrund stehen. Denn es waren wohl gerade die Bischöfe, die mit ihren internationalen Verbindungen - das Beispiel von Silvester Pflieger und Enea Silvio Piccolomini scheint bereits darauf hinzudeuten - für das überregional ausstrahlende Prestige des Kleinbistums in der universalen Kirche sorgten.
 

Fussnote(n):
[2] Vgl. Märtl, Claudia, Liberalitas Baioarica. Enea Silvio Piccolomini und Bayern, in: Dopsch, Heinz / Freund, Stephan / Schmid, Alois (Hg.), Bayern und Italien. Politik, Kultur, Kommunikation (8.-15. Jahrhundert). Festschrift für Kurt Reindel zum 75. Geburtstag (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft 18 B), München 2001, S. 237-260, hier 243 f.
[3] Piccolomini, Enea Silvio, Deutschland. Der Brieftraktat an Martin Mayer un Jakob Wimpfelings ‚Antwort und Einwendungen gegen Enea Silvio', übers. und erl. v. Adolf Schmidt (Die geschichtschreiber der deutschen Vorzeit, 104), Köln - Graz 1962, S. 107.
[4] Vgl. Schmauß, Johann Jacob, Der allerneueste Staat des Ertz-Bißthums Saltzburg, Und der darunter gehoerigen Vier Mediat-Stiffter Gurck, Chiemsee, Seckau, Lavant, Halle 1712, S. 140 f.

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