Bei den Ursachen für dieses Vorgehen gegen die VVN lassen sich direkt wiedergutmachungspolitische Aspekte nennen: Die SED erweiterte auf die beschriebene Weise ihren Einflussbereich auf die behördliche Praxis in der Frage der VdN-Anerkennung. Darüber hinaus entledigte sich die Staatspartei mit der VVN eines Deckmantels, unter dem verschiedene nicht-sozialistische Identitäten weiterexistieren hatten können; beispielsweise hatten im Berliner VVN-Verband fast die Hälfte der Mitglieder zu den nicht-sozialistischen rassisch Verfolgten gehört.[12] Hinzu kommt, dass die Ost-VVN 1947/48 ein Forum zur Diskussion von Wiedergutmachungskonzepten (mit dem Ziel teilweiser Rückerstattung) dargestellt hatte.[13] Selbst wenn die nach 1948 ohnehin seltener gewordenen Debatten nicht in konkrete Entscheidungen gemündet hatten, hatte die SED doch ein großes Interesse daran, den wiedergutmachungspolitischen Diskurs nicht plural und offen stattfinden zu lassen. Daneben existiert auch eine Gruppe pragmatischer Gründe für die gelenkte Strukturumwandlung durch die SED: Die damals in der Bevölkerung hoch angesehene VVN wurde von der DDR-Führung als "vergangenheitspolitischer Bremsklotz" gesehen, der vor allem einer Integration ehemaliger Parteigenossen der NSDAP in die sozialistische Gesellschaft - Stichwort: Politik der Nationalen Front - im Wege standen.[14] Ein weiteres Motiv für die Entscheidung zur Beendigung der Arbeit der Verfolgtenorganisation liegt in internen Machtkämpfen in der Arena SED. Mit den beschriebenen Schritten sollten Personen und Gruppen, als deren Hausmacht die VVN gegolten hatte, zugunsten der Gruppe um den Generalsekretär Walter Ulbricht geschwächt werden.[15] Ein weiterer Sachverhalt (nach der vorigen eher strukturellen nun eine eher primär inhaltliche Wende in der Wiedergutmachungspolitik) betrifft die sog. antizionistische Kampagne von 1952/53. Am 01.12.1952 wurde der SED-Funktionär Paul Merker unter dem Vorwurf der Spionagetätigkeit für den Westen und für Israel verhaftet. Paul Merker hatte 1942-46 in Mexiko gelebt und war dort publizistisch als einer der ersten Befürworter einer umfassenden Entschädigung und Rückerstattung für jüdische Opfer des Nationalsozialismus hervorgetreten. Nachdem es 1952 bereits in Tschechien zu vorwiegend gegen jüdische Kommunisten gerichteten Schauprozessen gekommen war, drohte die antijüdische und antizionistische (d.h. antiisraelische) Welle mit den repressiven Maßnahmen gegen Merker auf die DDR überzuschwappen: Aus dieser Furcht flohen jüdische Funktionäre der SED, darunter fünf der acht Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland, nach Westen; bis 1954 verließen 25%[16] der Juden die DDR.[17] Zu den Vorwürfen gegen (den Nicht-Juden!) Merker: Es wurde eine direkte Verbindung zwischen Merkers Wiedergutmachungsforderungen und seiner angeblichen konspirativen Tätigkeit für den Westen hergestellt. Er habe - so die Rhetorik eines Beschlusses des Zentralkomitees der SED zum Fall Merker - die Entschädigung für Juden nur gefordert, "um dem USA-Finanzkapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen."[18] Die Illegitimität von Rückerstattung wurde sogar argumentativ mit Wiedergabe des alten Stereotyps vom kapitalistischen Juden untermauert.[19] Das Vorgehen gegen Paul Merker mit seinem erkennbaren und vermutlich auch beabsichtigten Abschreckungseffekt v.a. auf die jüdische Bevölkerung der DDR gepaart mit sprachlicher Diskreditierung von Entschädigung und Restitution kann als finaler Punkt zur Durchsetzung einer genuin sozialistischen antikapitalistischen Wiedergutmachungskonzeption gewertet werden. Gleichzeitig drängt der tagespolitische Bezug der Aktionen zweckrationale Motive in den Vordergrund. Erneut sei auf parteiinterne Auseinandersetzungen seit Anfang der 50er Jahre verwiesen, bei welchen die sog. Westemigranten um Paul Merker in Opposition zur Gruppe um Ulbricht stand. Die Westemigranten waren während der NS-Zeit als Exilanten in Südamerika (anders als die Moskauer Kader um Ulbricht) für die Belange der jüdischen Opfer des Faschismus eingetreten; nun instrumentalisierte Ulbricht das Thema "Wiedergutmachung" als angeblichen Beleg für eine proamerikanische und proisraelische Spionagetätigkeit der Westemigranten, um seine Gegner in der SED politisch auszuschalten. Die antizionistische Kampagne mit ihrem antiwestlichen und antijüdischen Unterton lässt sich in die internationale Politik einbetten: Durch die Verbündung der Sowjetunion mit den arabischen Staaten wurde eine feindliche Haltung gegen Israel eingenommen, in deren Kontext auch die beschriebenen Handlungen einzuordnen sind.[20] Als Resümee zur Analyse der Wiedergutmachungspolitik der DDR 1952/53 kann zusammengefasst werden, dass man bei den zwei herausgegriffenen Ereignissen (VVN-Auflösung und antizionistische Kampagne) nicht eindeutig ideologiegeleitete Motive als Ursachen festmachen konnte. Zwar richteten sich die wiedergutmachungspolitischen Maßnahmen dem Sozialismus entsprechend gegen individuelle Entschädigung und Rückerstattung sowie die Herausbildung einer Identität nicht sozialistischer Minderheiten. Trotzdem verweisen Tendenzen zur machtpolitischen Instrumentalisierung der Wiedergutmachungsfrage durch Ulbricht die Wiedergutmachungspolitik in einen Bereich zwischen Ideologie und Pragmatismus.
Empfohlene Zitierweise:
Schmid, Matthias: Zwischen Ideologie und Pragmatismus: Wiedergutmachungspolitik der DDR beim "Aufbau des Sozialismus" 1952/53, in: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten [Ausgabe 02 - Sommersemester 06], www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de/index.php?ausg=2&id=33&subid=28 [Letzter Aufruf am xx.xx.xxxx]
Schmid, Matthias
19.09.1984
studiert Mag. PW, NNG, Phil. seit WiSe 04/05