Ausgabe 04
Wintersemester 07/08
 
Die Historische Internetzeitschrift Von Studierenden für Studierende
 
  Aus dem Archiv (Ausgabe 01 - Wintersemester 05/06)
 

Spree, Reinhard

 
 

Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik. Der Krankenhauspatient in Vergangenheit und Gegenwart [*]

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  Das ist insofern erstaunlich, als im Stichjahr 1910 ja im ganzen Deutschen Reich identische Vorgaben in Form der GKV existierten. Anders im frühen 19. Jahrhundert, als in vielen süddeutschen Städten Zwangsversicherungen für die "labouring poor" auf das jeweilige örtliche Krankenhaus eingerichtet worden waren, erstmalig 1786 in Würzburg, wenige Jahre später in Bamberg, im frühen 19. Jahrhundert dann in Augsburg, München, Stuttgart und Mannheim. Zumindest für Bayern ist anzunehmen, daß ab der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Stadt, die über ein Krankenhaus verfügte, auf die Zwangsversicherung derjenigen Unterschichtengruppen verzichtete, die die Hauptklientel des Krankenhauses bilden sollten, also Dienstboten, Handwerksgesellen, Gewerbegehilfen usw. Dafür sorgte allein schon das "Gesetz über die Unterstützung und Verpflegung hilfsbedürftiger und erkrankter Personen" vom 9. 8. 1850, in dem die Gemeinden verpflichtet wurden, auch die nicht heimatberechtigten Dienstboten, Gewerbslehrlinge und -gehilfen sowie Fabrikarbeiter im Fall der Erkrankung am jeweiligen Aufenthaltsort zu versorgen, ohne die Kosten von der Heimatgemeinde erstattet zu bekommen. "Dagegen ist jede Gemeinde berechtigt, von allen in Art. 3 bezeichneten Personen, unter Haftung ihrer Dienstherren, einen angemessenen Unterstützungs- oder Krankenverpflegungsbeitrag bis zum Maximum von wöchentlich drei Kreuzern zu erheben", heißt es in Art. 4 des Gesetzes. In den übrigen süddeutschen Staaten war man mit der Zwangsversicherung, die auf diese Weise begründet wurde, zurückhaltender. Aber viele süddeutsche Städte gingen dennoch ebenfalls diesen Weg. In Norddeutschland setzte man statt dessen in der Regel auf die gewerblichen und Fabrikkrankenkassen, die in Preußen seit der Gewerbeordnung von 1845 propagiert, aber nur relativ selten realisiert wurden. Obwohl diese Regelungen bis in die 1880er Jahre einen deutlichen Vorsprung Süddeutschlands hinsichtlich der Versicherungsdichte der Unterschichten begründeten, wurde dieser theoretisch durch die Einführung der GKV nivelliert, denn sie führte i. d. R. zur Auflösung der älteren Krankenhausversicherungen. Dennoch scheint die süddeutsche Versicherungstradition bis ins frühe 20. Jahrhundert nachgewirkt zu haben.  

  Das hatte wichtige Konsequenzen: Eine war, daß auf diese Weise die gesundheitspolitische Funktion der Krankenhäuser in Süddeutschland offenbar ausgeprägter war. Denn in Norddeutschland waren die Versicherungen so ausgelegt, daß die Finanzierung eines Krankenhausaufenthalts eine Kannbestimmung darstellte. Deshalb mußte in Norddeutschland der größte Teil der Krankenhausaufenthalte von der Armenfürsorge finanziert werden, was für die Betroffenen mit vielerlei Unannehmlichkeiten verbunden war (besonders: Bedürftigkeitsprüfung und Verlust des kommunalen Wahlrechts) und deshalb soweit wie möglich vermieden wurde. In Süddeutschland dagegen hat man die Menschen versichert; damit hatten sie einen Anspruch erworben. Sie konnten sozusagen erhobenen Hauptes ins Krankenhaus gehen. Zugleich dürfte das ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, daß sich in Norddeutschland bis ins frühe 20. Jahrhundert die Wahrnehmung des Krankenhauses als einer Armenanstalt, ja, als eines Armenhauses hielt - verbunden mit einer gewissen Abwehrhaltung gegenüber einem Krankenhausaufenthalt, die sich erst im 20. Jahrhundert allmählich auflöste.  

  Von Interesse ist zweifellos, an welchen Krankheiten denn die Krankenhauspatienten typischerweise litten und ob sich da während der letzten beiden Jahrhunderte wesentliche Änderungen ergeben haben? Für das 19. Jahrhundert kann ich diese Frage nur partiell beantworten, da ich mich auf die jeweilige Innere Abteilung einiger beispielhafter Krankenhäuser beschränken muß, d.h., die Chirurgie bleibt unberücksichtigt.  

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